Mittwoch, 20. Juli 2011

Auch Günter Grass stellt endlich die Systemfrage: Der Kapitalismus ist asozial

(...) Nicht zuletzt sind es die großmächtigen Banken, deren Lobbytätigkeit mittlerweile das gewählte Parlament mitsamt der Regierung in Geiselhaft genommen hat. Die Banken spielen Schicksal, unabwendbares. Sie führen ein Eigenleben. Ihre Vorstände und Großaktionäre formieren sich zu einer Parallelgesellschaft. (...)

Selbstverständlich sind auch die Tages- und Wochenzeitungen, also die Journalisten, dieser Allmacht ausgesetzt. Es bedarf keiner altmodischen Zensur mehr, die Vergabe oder Verweigerung von Anzeigen reicht aus, um die ohnehin in Existenznot geratenen Printmedien zu erpressen. (...)

Ich muss und will mich nicht auf Weimar als warnendes Beispiel berufen, die gegenwärtigen Ermüdungs- und Zerfallserscheinungen im Gefüge unseres Staates bieten Anlass genug, ernsthaft daran zu zweifeln, ob unsere Verfassung noch garantiert was sie verspricht. Das Auseinanderdriften in eine Klassengesellschaft mit verarmender Mehrheit und sich absondernder reicher Oberschicht, der Schuldenberg, dessen Gipfel mittlerweile von einer Wolke aus Nullen verhüllt ist, die Unfähigkeit und dargestellte Ohnmacht freigewählter Parlamentarier gegenüber der geballten Macht der Interessenverbände und nicht zuletzt der Würgegriff der Banken machen aus meiner Sicht die Notwendigkeit vordringlich, etwas bislang Unaussprechliches zu tun, nämlich die Systemfrage zu stellen. (...)

Ist ein der Demokratie wie zwanghaft vorgeschriebenes kapitalistisches System, in dem sich die Finanzwirtschaft weitgehend von der realen Ökonomie gelöst hat, doch diese wiederholt durch hausgemachte Krisen gefährdet, noch zumutbar? Sollen uns weiterhin die Glaubensartikel Markt, Konsum und Profit als Religionsersatz tauglich sein? / Mir jedenfalls ist sicher, dass das kapitalistische System, befördert durch den Neoliberalismus und alternativlos, wie es sich darstellt, zu einer Kapitalvernichtungsmaschinerie verkommen ist und fern der einst erfolgreichen Sozialen Marktwirtschaft nur noch sich selbst genügt: ein Moloch, asozial und von keinem Gesetz wirksam gezügelt. (...)

Ein Zerfall der demokratischen Ordnungen jedoch ließe - wofür es Beispiele genug gibt - ein Vakuum entstehen, von dem Kräfte Besitz ergreifen könnten, die zu beschreiben unsere Vorstellungskraft überfordert, so sehr wir gebrannte Kinder sind, gezeichnet von den immer noch spürbaren Folgen des Faschismus und Stalinismus.

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Anmerkung: Lieber spät, als nie, möchte man meinen. Grass hat sich während der Marktradikalisierung der letzten Jahrzehnte allzu lange mit kritischen Bemerkungen zurückgehalten und war sogar einer der Steigbügelhalter von Gerhard "Basta" Schröder, bevor dieser den neoliberalen Hammer geschwungen und den Sozialstaat und damit auch die soziale Marktwirtschaft zerstört hat. Dennoch ist diese Rede des greisen Grass' vor den Journalisten des Netzwerks Recherche bemerkenswert und verdient eine weitere Verbreitung und Auseinandersetzung.

Viele seiner Schlussfolgerungen und Formulierungen sind wie gewohnt brilliant und treffend - in einigen Punkten muss man bei der Lektüre jedoch wieder einmal schlucken. Es ist beispielsweise nicht nachvollziehbar, dass Grass ausgerechnet Helmut Schmidt und Peter Struck als "vorzügliche Politiker in Sachen Verteidigungspolitik" bezeichnet - gerade letzterer hat ja mit seinem dümmlichen Ausspruch, die Freiheit der Bundesrepublik werde am Hindukusch verteidigt, zur erheblichen Deformation des Grundgesetzes, die Grass später in seiner Rede ebenfalls benennt, beigetragen.

Aber sei's drum. Diese Rede ist ein wichtiger Meilenstein im Veröffentlichungsprozess der allgemein erkennbaren Katastrophenfront des Kapitalismus, die auf den Abgrund und nicht zuletzt auf den Faschismus zusteuert. Wenn sogar jemand wie Grass vor den unabsehbaren Folgen dieses nahenden und nicht zu übersehenden Zusammenbruchs eines globalen Systems warnt, ist es nicht mehr fünf vor, sondern längst nach zwölf Uhr.

Konsequenzen wird das indes nicht haben - nicht im (abhängigen) Journalismus, und erst recht nicht in der Politik. Von den Verantwortlichen in der Wirtschaft will man da gar nicht erst reden. Mögliche Veränderungen könnten nur durch Impulse von außen stattfinden - viel wahrscheinlicher ist es aber wieder einmal, dass die neoliberale Bande den Kurs aufs Riff stur beibehält, bis es tatsächlich zum großen, extremen Knall kommt.

"Those who cannot remember the past are condemned to repeat it." (George Santayana [1863-1952])

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