Donnerstag, 30. Juni 2011

Treitschke, Spengler und Sarrazin - Brüder im Geiste?

(...) Islamfeindliche Äußerungen sind rassistische Äußerungen. Wer sich wie Sarrazin über Hunderte von Seiten eugenisch wie islamfeindlich artikuliert, ist ohne wenn und aber als Rassist zu bezeichnen. Wenn Zeitungen wie die FAZ diese Bezeichnung bis zuletzt ablehnen, namhafte Persönlichkeiten wie der Historiker Hans-Ulrich Wehler gar von einem "im Kern sozialdemokratischen Buch" sprechen, wenn man trotz faschistoider Positionen aus Rücksichtnahme vor der "vox populi" Mitglied in der SPD bleiben darf, dann haben wir ein ernsthaftes Problem in Deutschland. (...)

Der Transfer antisemitischer Topoi wird u.a. daran deutlich, dass im wilhelminischen Deutschland Juden der Vorwurf gemacht wurde, einen "Staat im Staate" zu bilden, ein integrationsunwilliger Fremdkörper zu sein, während bei Sarrazin von "Parallelgesellschaften" die Rede ist, von "mangelnder Integrationsbereitschaft", ja von "Integrationsunfähigkeit" des Islam. Während es beim Berliner Antisemitismusstreit von 1880 hieß: "Die Kinder Israels vermehren sich in Berlin genauso heftig wie einst in Ägypten", lautet die transferierte Passage bei Sarrazin: "Die Araber und Türken haben einen zwei- bis dreimal höheren Anteil an Geburten, als es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht." Während Heinrich von Treitschke den Spruch "Die Juden sind unser Unglück" benutzte, um eine scharfe Assimilation zu fordern und seine Verachtung gegenüber den sogenannten "Ostjuden" im Terminus "hosenverkaufende Jünglinge" zum Ausdruck brachte, lautet die Quintessenz des Sarrazin-Buches: Die Muslime sind unser Unglück, werden Menschen mit muslimischen Migrationshintergrund als "Obstverkäufer" bezeichnet, produzieren bei Sarrazin Muslime ständig "neue kleine Kopftuchmädchen". Während es im faschistischen Propagandafilm "Opfer" aus dem Jahre 1937 hieß: "Das jüdische Volk stellt einen besonders hohen Prozentsatz an Erbkranken. Auch für sie müssen gesunde deutsche Volksgenossen arbeiten", lautet die entsprechende Passage bei Sarrazin: "Ganze Clans haben eine lange Tradition von Inzucht und entsprechend viele Behinderungen. Es ist bekannt, dass der Anteil der angeborenen Behinderungen unter den türkischen Migranten weit überdurchschnittlich ist." Die bevölkerungsdystopischen Vorstellungen Sarrazins weisen dabei vielfältige Parallelen zur faschistischen "Rassenhygiene" auf.

Während sich der Antisemitismus im wilhelminischen Kaiserreich als eine Art Abwehrkampf gegen das angeblich übermächtige Judentum stilisierte, als Kampf gegen die drohende "Judaisierung", empfiehlt Sarrazin sich als Kämpfer für den Erhalt deutscher Identität und Kultur, als Retter vor der drohenden "Islamisierung" Deutschlands. Während der Wegbereiter des deutschen Faschismus, Oswald Spengler, sein Werk "Der Untergang des Abendlandes" betitelte, prophezeit Sarrazin "Deutschland schafft sich ab".

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Anmerkung: Es ist sehr erfreulich, dass endlich jemand fundiert die grassierende Islamphobie, für die Sarrazin leider nur stellvertretend steht, da sie in neoliberalen Kreisen weit verbreitet ist, beim Namen nennt und einen direkten Vergleich mit den bekannten rassistischen Entgleisungen der Vergangenheit zieht.

Ebenso ist die Erkenntnis wichtig, dass es hier nicht bloß um Muslime geht, sondern dass diese Gruppe auch heute wieder lediglich instrumentalisiert wird, um ein generelles Klima für Ausgrenzung und Hass zu schaffen - vollkommen unabhängig davon, welcher Religion jemand angehört. Um Religionen oder irgendwelche "Werte" geht es bei diesem allzu bekannten Vorgang nicht. Im Artikel heißt es dazu:

"Die Spaltung in ein 'Wir' und 'die anderen' forciert den Abschied von der Solidargemeinschaft, der Elitenrassismus a la Sarrazin dient der Verstärkung gesellschaftlicher Entsolidarisierungsprozesse, der forcierten Etablierung einer Ellebogengesellschaft mit dem verbrieften Recht des Stärkeren. Salonfähig werden soll ein ökonomistisch-utilitaristisches Denken. Realisiert werden sollen eugenische Praxen, die an die Stelle der Menschenwürde den Menschennutzen setzen und Menschen in 'Valid' und 'Invalid', in 'Nützlich' und 'Unnütz' unterscheiden und die Menschenwürde ad acta legen."

Der neoliberalen Bande geht und ging es damals wie heute nicht um die Menschen und deren Wohlergehen, nicht um einen wie auch immer bezeichneten Staat, nicht um das "Abendland" und seine angeblichen Werte - oder welche Scheinziele da auch sonst noch vorkommen mögen - sondern stets nur um das Wohl der kleinen Clique der Superreichen. Wenn dieses Wohl im logischen Endstadium des sich auflösenden Kapitalismus sogar Faschismus und Rassismus "nötig macht", zögert diese Bande keine Sekunde, diesem Impuls auch heute wieder nachzugeben - egal in welchem Gewand. Dass es diesmal die SPD ist, aus deren Reihen die erste wahrgenommene Hassschrift stammt, verwundert da nur einen Narren.

Schuld am Untergang beispielsweise Griechenlands und anderer Länder und an der desolaten Situation breitester Bevölkerungsschichten in ganz Europa und weiten Teilen der Welt sind weder Muslime, noch Arbeitslose oder andere verarmte, ausgebeutete Menschen - Schuld daran ist einzig und allein der Kapitalismus, der eine immense Ungleichheit und eine kleine Minderheit von Superreichen produziert, die sich auf Kosten des Rests der Welt ein luxuriöses Leben und unsägliche, niemals abbau- oder irgendwie nutzbare Reichtümer gönnt.

Wie das damals in Nazideutschland abgelaufen ist, können Sie der nachfolgend verlinkten Dokumentation entnehmen - wie das heute funktioniert, müssen Sie einstweilen noch erahnen. Man darf aber gewiss davon ausgehen, dass die "Wirtschaft" - also die Superreichen - ihre schmutzigen Finger noch erheblich intensiver im Weltgeschehen stecken hat als damals.


(Google-Video-Link)

Gleichheit ist Glück

Ungleichheit macht krank, und zwar nicht nur das Individuum, sondern am Ende die gesamte Gesellschaft. Und Wirtschaftswachstum bietet keine Lösung – denn es macht nicht glücklicher.

Die Erkenntnis klingt erst mal altbacken und banal: Gleichheit ist gut für eine Gesellschaft. Der Wirtschaftshistoriker Richard Wilkinson und die Epidemiologin Kate Pickett haben dieser Erkenntnis in der empirischen Studie "Gleichheit ist Glück" jedoch ein (wissenschaftliches) Fundament verliehen, das viele Ansatzpunkte und Anregungen für die laufende Debatte um die zunehmend auseinanderklaffende Einkommensschere liefert.

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Anmerkung: Man möchte dieser Studie eine mannigfaltige Leserschaft wünschen - gerade aus den Kreisen derer, die sich selbst zur Mittel- oder gar Oberschicht zählen. Wir dürfen indes sicher sein: Die Schlips- und Aktenkofferträger der neoliberalen Bande interessiert etwas so Schnödes wie Glück - insbesondere dann, wenn es für alle Menschen gleichermaßen gelten soll - nicht die Bohne.

Wie erklärt man einem Egoisten, dass sein Egoismus nicht nur anderen, sondern auch ihm selbst schadet? Er wird entgegnen: "Nun, dann war mein Egoismus wohl noch nicht ausgeprägt genug" - und die Dosis weiter erhöhen. - Exakt diese pathologische Reaktion erleben wir seit geraumer Zeit in tausendfachen Beispielen und unzähligen Variationen immer wieder.

Der Kapitalismus strebt keine Gleichheit an, und offensichtlich auch nicht das Glück. Wieso also gibt es immer noch Menschen, die diese pervertierte Vergewaltigungsform des Wirtschaftens und Handelns bevorzugen?

Zitat des Tages: Accessoire

Als Philipp Rösler von Guido Westerwelle den Vorsitz der FDP übernahm, schrieben viele Zeitungen, es handle sich bei dem Neuen um einen Hoffnungsträger. Nachdem die FDP jetzt unter der neuen Führung aus der Bremer Bürgerschaft geflogen ist, scheint die Sache klar. Mit den Hoffnungsträgern (und den Leistungsträgern) ist es wie mit den Hosenträgern. Hosenträger sind Hosenträger, auch wenn keine Hose in der Nähe ist.

(Günter Krone im Ossietzky 11/2011)


(Bild: Hosenträger samt Esel)