Mittwoch, 26. Dezember 2012

Über den Kapitalismus und die fruchtbaren Böden


"Es gibt kein richtiges Leben im Falschen", hat der Frankfurter Philosoph, Soziologe, Musiktheoretiker und Komponist Theodor W. Adorno gesagt. Kann es überhaupt richtiges Denken und Fühlen im Falschen geben? Und können wir unser Handeln frei halten von den zynischen Dogmen des selbst proklamierten Gewinners der Klassenkämpfe? Sind wir wirklich überzeugt, dass eine andere Welt möglich ist und tragen wir selbst dazu bei?

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Anmerkung: Diesen kleinen Grundsatzartikel zum Wesen des Kapitalismus und zur Omnipräsenz neoliberaler Propaganda kann ich nur jedem wärmstens empfehlen - die Autorin findet verständliche Worte für komplexe Themen.

Widersprechen muss ich ihr lediglich in einem Punkt, nämlich wenn sie resümierend feststellt und fragt:

"Ist dies nun das alte Prinzip des 'homo homini lupus' (der Mensch ist des Menschen Wolf) und damit eine unabänderliche anthropologische Konstante, gern auch zitiert von den Apologeten des skandalösen Ist-Zustandes dieses Planeten mit den Worten 'Der Mensch ist eben schlecht'? / Oder ist es, abgesehen davon, dass sich gewisse grundlegende unsympathische Züge dieses zum Egoismus neigenden Säugetiers ja nicht ganz leugnen lassen, in erster Linie die unausweichliche Konsequenz einer schleichenden und wie Radioaktivität in alle eindringenden Vergiftung des Denkens und Fühlens, das die kannibalisch-kapitalistische Gesellschaftsordnung ausdünstet?"

Ihre Antwort - das kapitalistische (propagandistische) "Gift", das den Menschen schon vom Kindergarten an eingeimpft werde, sei die Ursache - ist zugleich auch ihre Negation, denn es liegt doch auf der Hand, dass dieser "skandalöse Ist-Zustand" nur dann über so viele Jahrhunderte bis heute aufrecht erhalten werden konnte und auch in alternativen Gesellschafts- und Denkstrukturen immer wieder - unablässig und unaufhörlich - die Oberhand gewinnt, wenn die eigentlich zu widerlegende Aussage ("Der Mensch ist eben schlecht") tatsächlich doch der Realität entspricht.

Der "menschenfreundliche Umdeutungsversuch" der Autorin wirkt hingegen wie eine fatale Kopie des neoliberalen Irrsinns, der seinerseits ja die katastrophalen Auswirkungen des Kapitalismus ignoriert und statt dessen immer wieder höhere Dosen desselben Giftes fordert und rücksichtslos durchsetzt.

Es ist unbestritten, dass der Kapitalismus weniger die "Seelen", dafür vielmehr das Denken und Handeln der Menschen vergiftet. Die (wohl ebenso unbestrittene) Tatsache, dass diese Vergiftung so umfassend, so lange und so nachhaltig geschehen konnte und kann (und selbst erklärte Andersdenkende immer wieder befällt), ist aber wohl nicht auf die völlige Perfektion des Giftes, sondern vielmehr auf den sehr fruchtbaren menschlichen Nährboden zurückzuführen. Es ist in der Tat eine anthropologische Konstante - ob diese indes "unabänderlich" ist, kann nur die Zukunft zeigen.

Meine persönliche Wahrnehmung bezüglich der kommenden Dekaden bewegt sich da leider im fatalistischen Bereich: Es war immer so, es ist so, es wird auch weiterhin so sein. So etwas hören oder lesen Visionäre verständlicher Weise nicht gerne, so dass ich kompetente Unterstützung bemühe:

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Der Visionarr

Lampe, blöck nicht.
Aus der Wand fuhr ein dünner Frauenarm.
Er war bleich und blau geädert.
Die Finger waren mit kostbaren Ringen bepatzt.
Als ich die Hand küsste, erschrak ich:
Sie war lebendig und warm.
Das Gesicht wurde mir zerkratzt.
Ich nahm ein Küchenmesser und zerschnitt ein paar Adern.
Eine große Katze leckte zierlich das Blut vom Boden auf.
Ein Mann indes kroch mit gesträubten Haaren
einen schräg an die Wand gelegten Besenstiel hinauf.

(Jakob van Hoddis [1887-1942], in: Jahrgang 1 der "Aktion", 1911)

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