Samstag, 13. Oktober 2012

Zitat des Tages: Letzte Reise


Ohne Koffer, möglichst leise
Machst du eine kleine Reise
Ganz allein.
Sitzt bequem im Speisewagen,
Lässt vorbei die Felder jagen
Und trinkst Wein.
Fährst durch Städte, fremde Orte,
Schreibst mal eine Ansichtskarte
Nach zu Haus.
Denkst gerührt an die Verwandtschaft,
Und gefällt dir eine Landschaft,
Steigst du aus.
Wandelst fremd durch fremde Gassen,
Kannst das Glück noch gar nicht fassen,
Dass dich nichts mehr hält.
Keine Briefe, keine Zeitung,
Abgeschnitten ist die Leitung
Mit der Welt!
Legst dich im Hotel zu Bette,
Rauchst die letzte Zigarette,
Freust dich noch des Lichts,
Schluckst ein Pulver, lächelst leise,
Und trittst an die letzte Reise
In das Nichts.

(Siegfried von Vegesack [1888-1974], in "Simplicissimus", Heft 13 vom 27.06.1927)


(Bild: www.von-vegesack.de)

Die verlorene Generation


Erinnert sich noch jemand an die 1970er Jahre? – Wer in der damaligen Bundesrepublik die Schule abschloss, dem stand die Welt offen. Wer sein Studium selbst finanzieren musste, konnte sich die Studentenjobs aussuchen, das Studium ließ sogar Zeit für politische und andere Aktivitäten, und mit dem Begriff Arbeitslosigkeit konnte man nur wenig anfangen.

Stichwort Lebensplanung: Die Zukunft schien gesichert, ja, man konnte sich sogar eine Auszeit gönnen, bevor man in das Berufsleben einstieg. Selbst jene, die aus einfachen Verhältnissen kamen, konnten studieren, die Chancengleichheit war so hoch wie nie zuvor. Und vor allem dies: Es wäre einem nie in den Sinn gekommen, dass es irgendwann anders sein könnte.

Wer heute die Schule oder die Universität verlässt, kann sich kaum vorstellen, dass ›es‹ mal anders war. Das Ausbildungssystem, welches die heutige Generation durchläuft, ist auf Wirtschaftlichkeit und Effizienz getrimmt. Das Gymnasium führt nun schon nach acht Jahren zum Abitur, das spart viel Geld. Die Universitäten sind Fabriken mit Lernnachweisen im Wochentakt, die Studienzeit ist streng reglementiert, Hörsäle überfüllt. Gleichzeitig zieht sich der Staat immer mehr aus der Finanzierung des Bildungswesens zurück, Bildungsreform ist nur noch ein Synonym für Sparmaßnahmen.

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Anmerkung: Ich fürchte, dass es sich nicht bloß um eine einzige Generation handeln wird, die wir mit dem hässlichen Wort "verloren" belegen müssen - ansonsten ist dieser kleine Text aber eine wunderbare Demontage des albernen Mythos', dass einjeder seines Glückes Schmied sei.

Es bleibt allerdings dabei, dass es auch in jener vergleichsweise frühen Phase des nach 1945 neu gestarteten Kapitalismus' bereits himmelschreiende Ungerechtigkeiten, Hunger, Not und Elend gegeben hat. Es gibt keinen "guten Kapitalismus", in dem alle Menschen fair und gleichberechtigt am vorhandenen Wohlstand teilhaben können - das schließt schon die Grundkonzeption dieses Systems aus. Heute, in der Endphase des kapitalistischen Katastrophenzyklus', werden die furchtbaren Auswirkungen lediglich stärker und schneller sichtbar, und das eben nicht mehr nur in Afrika, Südamerika oder Asien.

Eine Freundin sagte in diesem Zusammenhang kürzlich zu mir: "Eigentlich leben wir doch längst in einer Dystopie." Dem muss ich leider zustimmen und ich frage mich insgeheim, wie weit die neoliberale Bande wohl diesmal gehen wird. Angesichts der Geschichte ist mit Moral, Ethik, Empathie oder Humanismus nicht einmal ansatzweise zu rechnen.

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Weltwirtschaftskonferenz


"Prosit, meine Herren - das Elend existiert nicht, wenn wir es nicht in unser Protokoll aufnehmen!"

(Zeichnung von Thomas Theodor Heine [1867-1948], in "Simplicissimus", Heft 8 vom 23.05.1927)

Donnerstag, 11. Oktober 2012

Zitat des Tages: Dreck am Stecken


Der Landtagsausschuss als Ermittler
des Tatbestands in Sachen Hitler
(und was das Drumherum betraf)
verfiel in einen Dauerschlaf.

Will ihn denn niemand draus erwecken?
... Ach nein, es gibt zu viele Stecken
- jetzt sind sie freilich wohlgesinnt -,
an welchen sich ein Dreck befind't.

Und diesen selben zu erforschen
und Heldenseelen zu zermorschen,
bei denen's nicht ganz sauber riecht,
besteht zur Zeit kein Anlass nicht.

Zudem: das Waten durch die Sümpfe
gefährdet frisch gewasch'ne Strümpfe.
Ja, oft entsteht schon ein Katarrh,
wenn man bloß in der Nähe war.

(Ratatöskr alias Hans Erich Blaich [1873-1945], in "Simplicissimus", Heft 34 vom 21.11.1927)


(Bild: Stadtmuseum Fürstenfeldbruck)

Die neue Armut des Anton Schlecker


Nicht einmal ein Viertel (5.900) aller 23.000 ehemaligen Schlecker-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter haben acht Monate nach der Insolvenz des Unternehmens einen neuen Job gefunden, schreibt das Hamburger Abendblatt. Währenddessen soll der Firmenpatriarch Anton Schlecker dem Insolvenzverwalter ein Millionenangebot gemacht haben, um seine Villa in Ehingen zurückzukaufen, meldete die Süddeutsche online am 30. August.

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Anmerkung: Soviel also zur oft beschworenen Mär vom "großen Risiko" der Wirtschaft. Die Autoren des Ossietzky (oder des Hamburger Abendblattes) haben sich zwar leicht verrechnet (5.900 sind etwas mehr als ein Viertel von 23.000), was den Sachverhalt aber nicht weniger grotesk macht. Herr Schlecker und seine Familie müssen im Gegensatz zur Mehrheit ihrer ehemaligen LohnsklavInnen offensichtlich nicht so bald einen Antrag auf Hartz-Terror und Zwangsverarmung stellen.

Auf die naheliegende Idee, die Millionen statt dessen unter den 23.000 Menschen, die den Saftladen bis zum Schluss am Laufen gehalten und die Millionen selbst erwirtschaftet haben, aufzuteilen, kommt in diesem System niemand.

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Die soziale Frage


"Nach der Statistik kommt auf zwei Mann eine Hax'n." - "Stimmt. Der And're hat's gefressen, und ich hab zugeschaut."

(Zeichnung von Paul Schondorff [1880-?], in "Simplicissimus", Heft 26 vom 26.09.1927)

Dienstag, 9. Oktober 2012

Song des Tages: Seemann




(Apocalyptica & Nina Hagen: "Seemann", aus dem Album "Reflections" [Revised Version], 2003)

Komm in mein Boot
ein Sturm kommt auf und es wird Nacht
Wo willst du hin
so ganz allein treibst du davon
Wer hält deine Hand
wenn es dich nach unten zieht

Jetzt stehst du da an der Laterne
mit Tränen im Gesicht
Das Tageslicht fällt auf die Seite
der Herbstwind fegt die Straßen leer

Jetzt stehst du da an der Laterne
mit Tränen im Gesicht
Das Abendlicht verjagt die Schatten
die Zeit steht still und es wird Herbst

Komm in mein Boot
die Sehnsucht wird der Steuermann
Komm in mein Boot
der beste Seemann war doch ich

Jetzt stehst du da an der Laterne
mit Tränen im Gesicht
Das Feuer nimmst du von der Kerze
die Zeit steht still und es wird Herbst

Sie sprachen nur von deiner Mutter
so gnadenlos ist nur die Nacht
Am Ende bleib ich doch alleine
die Zeit steht still und mir ist kalt

Anmerkung: Diese Coverversion eines Rammstein-Songs gehört zur seltenen Kategorie "Besser als das Original". Die Gitarren, die man zu hören glaubt, sind in Wahrheit tatsächlich verzerrte Celli der finnischen Genies dieser Band; und sogar Gastsängerin Nina Hagen findet in diesem Song zu alten Glanzzeiten zurück. Es wirkt ein wenig befremdlich, wenn sie als Frau die Textzeile zum Besten gibt: "Der beste Seemann war doch ich" - aber sei's drum. Eine "Seefrau" kennt die deutsche Sprache bislang noch nicht.

Das Lied passt aber wie kaum ein anderes in unsere Zeit: Es wird - und das nicht nur jahreszeitlich gesehen - Herbst. Da bleibt in der Tat die Frage offen: "Wer hält deine Hand, wenn es dich nach unten zieht?"

Die verfickte Werbung, die nach dem Ende des Songs ungefragt gestartet wird, beendet Ihr bitte unverzüglich mit einem Klick auf das Kreuz rechts oben.


Buchempfehlung: Die Grenzen von Ulan-Bator


Klappentext: Der Ewige Krieg: Er herrscht zwischen den beiden Großmächten des Planeten - dem WestBlock und dem OstBlock. Dieser Krieg scheint kein Ende zu nehmen. Täglich strahlen riesige Bildschirme die Schlachten über die ganze Welt aus.

Die O'Neill-Stadt: die große Utopie. Eine gigantische Weltraumstation auf halbem Weg zwischen Erde und Mond. Trotz der Kriegswirren wird ihre Fertigstellung mit Eifer vorangetrieben. Wer wird nach der endgültigen Vernichtung der Erde dort leben?

Cyrus Vancouver: ein Journalist ohne Leser und bald auch ohne Zeitung. Trotz repressiver Staatsordnung kämpft er für das Überleben der letzten unabhängigen Publikationen innerhalb des WestBlocks. Seiner Ansicht nach besteht zwischen dem Ewigen Krieg und dem Bau der O'Neill-Stadt eine geheimnisvolle Verbindung, deren Aufdeckung eine tödliche Gefahr darstellt.

Pierre Giuliani, 1947 in Dublin geboren, Film- und Literaturkritiker, legt mit diesem Roman sein zweites Werk vor: Die Auseinandersetzung mit objektiver Realität und subjektiver Illusion, das packend erzählte und mit hintergründigem Humor gezeichnete Porträt eines totalitären Systems.

(Pierre Giuliani [1947-?]: "Die Grenzen von Ulan-Bator", Roman, 1979 französisch-kanadisches Original, 1986 deutsche Übersetzung)


Anmerkung: Es war u.a. dieser fesselnde Roman, der mich in jungen Jahren dazu gebracht hat, mich intensiv mit der dystopischen Literatur auseinanderzusetzen und meinen Geist dem Denken zu öffnen. Ich kann dem Autor gar nicht dankbar genug dafür sein. Davon abgesehen ist diese irrsinnige Geschichte ein wunderbares Beispiel für die ekelhaften Auswüchse, die die kapitalistische Unordnung und das damit einhergehende elitäre Geschwurbel haben.

Das Buch ist ein wirrer, abgehobener, psychedelischer Trip durch die Untiefen des menschlichen Geistes, der vom kapitalistisch geprägten, totalitären System in den Wahnsinn getrieben wird. Man muss keine Drogen nehmen - das Lesen dieses Buches ersetzt das vollständig. Mit einem Wort: Fantastisch.

90 Millionen Kinder unter fünf Jahren leiden an Mangelernährung


Das Kinderhilfswerk Unicef veröffentlicht alarmierende Zahlen: 90 Millionen Kinder leiden wegen [verunreinigten Wassers] an Mangelernährung. (...)

Für Kinder sei der Mangel an sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen besonders verhängnisvoll, betonte der Geschäftsführer von Unicef Deutschland, Christian Schneider, in Köln laut Mitteilung. Sie litten häufig an Darmerkrankungen, könnten Nahrung nur noch unzureichend aufnehmen und seien chronisch mangelernährt. Zudem fehlten ihnen lebenswichtige Vitamine, Jod und Spurenelemente. Das habe gravierende Folgen für ihre Entwicklung und führe oft zum Tod.

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Anmerkung: Dies ist wieder so eine Meldung, an die wir uns schon seit Jahrzehnten gewöhnt haben. Während wir in unserem heimischen kapitalistischen Wohlstand lebten, litten und starben die Menschen in anderen Regionen der Welt schon immer - als "Kollateralschäden" des westlichen Kapitalismus. Dass es heute weitaus mehr sind als noch vor 20 Jahren, verwundert wohl nur Deppen oder neoliberale Ideologen.

In immer stärkerem Maße spüren wir nun auch in der eigenen kleinen Wohlstandszone, dass der Kapitalismus auf seinem zerstörerischen Weg der Umverteilung aller Ressourcen und Besitztümer von unten nach oben keine Gefangenen macht - das Schicksal der 90 Millionen Kleinkinder aus der "fernen Welt" wird unweigerlich auch das Schicksal der heimischen Kleinkinder sein, wenn der Kapitalismus weiter wütet. In Griechenland, Portugal, Spanien und Italien können die Menschen bereits ein bitteres Lied davon singen.

Nichts davon passiert zufällig oder war "unvorhersehbar" - es ist die logische Folge dieses Systems und seit so vielen Jahrzehnten allseits bekannt. Dennoch feiert der Kapitalismus weiter ungehemmt und "alternativlos" seine Triumphe und wird fast nirgends auch nur ansatzweise in Frage gestellt - 90 Millionen mangelernährte Kleinkinder hin oder her. Da wirkt es fast wie eine kleine Sensation, dass die Bürgerinnen und Bürger Venezuelas sich mehrheitlich gestern trotz des medialen Propagandafeuers der "Elite" auch weiterhin für das sozialistische Experiment entschieden haben.

Nicht nur für die Kinder dieser Welt ist Venezuela damit ein kleiner Leuchtturm inmitten einer aufgewühlten, stürmischen, finsteren, bösen See.

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Nieder mit dem Kapitalismus!


1896: "A Zehnerl, wenn i hätt, tät i mir den Simpl kaufen!"
1920: "Ich möchte den Simplicissimus für meine Partei kaufen. Was kostet das ganze Unternehmen?"

(Zeichnung von Erich Schilling [1885-1945], in "Simplicissimus", Heft 1 vom 01.04.1920)