Samstag, 16. März 2013

Ungarn: Faschismus mit adretter Frisur


Die Jobbik ist die erfolgreichste faschistische Partei Europas. Innerhalb eines Jahrzehnts ist sie in Ungarn zur prägenden politischen Macht geworden: Der grassierende Rassismus bedroht den Zusammenhalt der Gesellschaft. Widerstand gegen völkische Strömungen gibt es kaum.

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Anmerkung: Europa im Jahre 2013 - aus Ungarn vernehmen wir: "Das antisemitische Konzept der Jobbik, das der Fidesz [die rechtsextreme Partei von Staatschef Orban] wiederum toleriert und teilweise auch selbst bespielt, ist sehr weit gefasst. 'Zielobjekt des Hasses sind Menschen, die antisemitischen Stereotypen entsprechen, unabhängig davon, ob sie einen jüdischen Hintergrund haben', sagt Marsovszky. Dazu gehörten sozialistische und liberale Politiker, Medienvertreterinnen mit einer kosmopolitischen Einstellung, die linksliberale Intelligenz und Menschen mit einer urbanen Lebensweise. 'Wer nicht völkisch denkt, wird – selbstverständlich unterschiedlich codiert – als 'verjudet' abgestempelt', so Marsovszky."

Vokabeln wie "völkisch" oder "verjudet" tauchen da ebenso selbstverständlich auf wie die "Schwarzhemden", die einmal mehr als "Bürgerwehr" verniedlicht werden. Wieviele Offensichtlichkeiten braucht es denn noch, bis auch das letzte Schaf in Europa bemerkt, auf welchem schauderhaften Weg sich diese Gesellschaft befindet? Die Bürokraten der EU gehen ja mit schlechtem Beispiel voran, wie uns der Artikel verrät: "Die EU tut vor allem eines: wegschauen. Unsere Währung ist der Forint und nicht der Euro. Unsere Sprache versteht niemand. Ungarn liegt geografisch inmitten Europas, wird aber dennoch wie ein Randgebiet behandelt."

Ich hege noch viel weitreichendere Befürchtungen, die so manchem wie wilde Verschwörungstheorien vorkommen mögen: Ich halte es nicht für einen Zufall oder Nachlässigkeit, dass die neoliberale Bande quer durch alle EU-Staaten von dieser offensichtlich furchtbaren Entwicklung in Ungarn keine Notiz zu nehmen scheint und sich dazu schlicht nicht äußert. Ich bin sicher, dass unsichere, menschenfeindliche Zustände in Ungarn - bis hin zu einem auch im Text erwähnten möglichen Bürgerkrieg dort - nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern geradezu herbeigesehnt werden, um das kranke System des Kapitalismus noch länger künstlich am Leben zu erhalten. Gewiss wird in diesen ekelhaften Kreisen darauf spekuliert, dass es diesmal "bestimmt nicht so schlimm" werden wird wie damals - obwohl ihnen auch ein erneuter umfassender Weltkrieg sicherlich nicht ungelegen käme. Man kann die Dollarzeichen in den Augen dieser "Elite" förmlich blinken sehen, wenn sie an Krieg, ausufernde Rüstung, zerstörte Städte, zerstörte Infrastrukturen oder zerstörte Industrieanlagen denken - das alles muss ja wieder aufgebaut werden und stellt eine wahre Goldgrube, eine automatische Kapitalvermehrungsmaschine für sie dar. Selbstverständlich sagen sie das niemals laut und öffentlich - aber ihr Schweigen zu Ungarn (und anderen neofaschistischen Tendenzen in Europa) entlarvt sie auch diesmal wieder.

Am erschreckendsten dabei ist aber die Erkenntnis, dass sich immer wieder - selbstverständlich auch heute - massenhaft Menschen finden, die sich in ihrer berechtigten Sorge um das eigene Wohlergehen vor den faschistischen Karren spannen lassen und munter auf Schwächere und Minderheiten einprügeln - ohne zu bemerken, dass sie nur nützliche Idioten der Superreichen sind und letzten Endes das Schicksal ihrer Opfer teilen werden. Aber was will man von Menschen, die ihr Leben lang klaglos die Herrschaft des Kapitals ertragen und sie gar für gut befunden haben, schon erwarten?


(Bild: Charlie)

Freitag, 15. März 2013

Musik des Tages: Larghetto




(Cyprien Boyer [1853-1926]: "Larghetto", aus: "12 Stücke für Orgel oder Harmonium", 1903)

Anmerkung: Wer dieses wundervolle Werk nicht selber spielen kann oder will, kann es sich hier in einer von mir erstellten computergenerierten Version als mp3, die dem Stück freilich in keiner Weise gerecht wird, herunterladen. Wenn ich die Möglichkeit hätte, das Stück von mir gespielt in einer akzeptablen Klangqualität aufzunehmen, hätte ich das getan. Das Ganze ist natürlich legal - es handelt sich um "gemeinfreie" Musik, für die kein Urheberrecht mehr gilt. Ich habe das schöne Musikstück anhand der mir vorliegenden (fast unleserlichen) Notenausgabe von 1903 neu gesetzt.

Cyprien Boyer gehört zu den vielen, vielen heute vollkommen vergessenen Komponisten der Romantik, deren Werk dem der heute noch bekannten Kollegen wie Chopin, Mahler oder Liszt in nichts nachsteht. Ich könnte versinken in dieser Musik, die sich vor lauter Schmerz gar nicht entschließen kann, in welche harmonische oder auch disharmonische Auflösung sie sich flüchten soll. Wenn nach den dissonanten Vorbereitungen ab Takt 9 das Ritardando einsetzt und im Moll-Sextakkord "a tempo" mündet, ist das - musikalische Laien mögen den Vergleich verzeihen - einem Orgasmus vergleichbar, der selten so schamlos durchkomponiert worden ist wie hier.

Das ist ganz große Kunst, und sie sollte nicht vergessen bleiben. Morgen, am 16. März, jährt sich der Geburtstag des Komponisten zum 160. Mal.

Donnerstag, 14. März 2013

Journalismus: "Ganz auf Linie mit den Eliten"


Wie eng verbunden sind deutsche Spitzenjournalisten mit anderen Eliten unserer Gesellschaft? Und spiegelt sich die Verbundenheit zwischen Top-Journalisten und anderen Eliten auch in der Berichterstattung wider?

Uwe Krüger, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig, gibt Antworten auf die Fragen. In einer beeindruckenden Studie hat Krüger die Netzwerkverbindungen deutscher Spitzenjournalisten analysiert. Seine Studie, die gewaltig am pluralistisch-demokratietheoretischen Medienverständnis rüttelt, ist nun unter dem Titel "Meinungsmacht" als Buch erschienen. Ein Buch, das zu einem Standardwerk in der Journalistenausbildung und in den Redaktionen werden sollte.

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Anmerkung: Wer noch Zweifel daran hatte, inwieweit der deutsche Mainstream-Journalismus seine widerwärtige Vereinigung mit der selbsternannten "Elite" bereits vollzogen hat, sollte zunächst dieses Interview und sodann die in Rede stehende Studie lesen - danach dürften alle Zweifel ausgeräumt sein. Ganz wunderbar hat jüngst der Ossietzky das "pluralistisch-demokratietheoretische Medienverständnis" zusammengefasst:

"Leitartikler, sämtlicher Monopolzeitungen: Immer wieder haben Sie den Lesern versichert, der Kapitalismus, den Sie Freie Marktwirtschaft nennen, garantiere Pressevielfalt als Grundbedingung der Demokratie. Nun übernimmt der FAZ-Konzern, zu dem schon die Frankfurter Neue Presse gehört, auch die Frankfurter Rundschau. In der Bankenmetropole gibt es keinen konkurrierenden Zeitungsverlag mehr. Müssen nun nur noch in Berlin, Hamburg und München ebensolche Monopole entstehen, bis Sie sich endlich korrigieren? Aber nein, das Problem wird auf andere Weise gelöst: Der Essener Verlagskonzern, dessen Haupterzeugnis die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) ist, das auflagenstärkste deutsche Regionalblatt, hat jetzt die ganze Redaktion der Westfälischen Rundschau in Dortmund aufgelöst. Das Blatt erscheint zwar unter dem alten Titel weiter, aber gefüllt mit Inhalten, die von der bisherigen Konkurrenz übernommen werden. Am Kiosk sieht es also weiterhin wie Pressevielfalt aus. Darauf kommt es an."

Wen wundert es da noch, dass in der Endphase des Kapitalismus die Endphase des Kapitalismus in sämtlichen Blättern und Magazinen schlicht nicht vorkommt? Viel wichtiger ist dem hochseriösen Kuhjournalismus momentan ohnehin die überaus wichtige Berichterstattung über jene obskure religiöse Sekte, die aus einem Kreis alter, sexuell frustrierter Männer in altertümlichen Frauenkleidern einen neuen "Stellvertreter Gottes auf Erden" erwählt hat. "Stellvertreter Gottes". Die meinen das ernst. Und auf allen Kanälen wird darüber bis auf die Innenseite der Unterhose des alten Mannes berichtet. Da diese Bande auch nicht müde wird, immer wieder zu behaupten, dass "good news no news" seien, müssen wir also davon ausgehen, dass die ausufernde Berichterstattung über diese widerwärtige Nichtigkeit eine überaus üble Nachricht darstellt. Dem kann ich nicht widersprechen: Auch diesmal hat diese gefährliche Sekte sich leider nicht aufgelöst.

Ganz ehrlich: Wenn ich so manche Redaktionskonferenz, der ich in der Vergangenheit beiwohnen musste, Revue passieren lasse, kann ich nur noch feststellen, dass der Begriff "Paralleluniversum" noch der harmloseste ist, der mir einfällt. Der ehrlichste und vermutlich von kaum jemandem geglaubte wäre "böswillige Verschleierung der Wirklichkeit zugunsten des Kapitals nebst allerlei albernen und hochnotpeinlichen, gerne auch ekeligen Ablenkungen".

Draußen die Landschaft ist eisig und verschneit. Mitten im März. Wenigstens die Landschaft hat verstanden.

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Der flammende Leitartikel



(Zeichnung von Thomas Theodor Heine [1867-1948], in "Simplicissimus", Heft 47 vom 16.02.1925)

Dienstag, 12. März 2013

Ein Brief ohne Antwort


Darf man faschismuskritische Vergleiche anstellen zwischen Bundesrepublik und Nationalsozialismus? Anfrage bei Charlotte Knobloch, der Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland

Ein Gastbeitrag von Holdger Platta


Sehr geehrte Frau Knobloch,

erst mit Verspätung habe ich davon erfahren, dass Sie an Herrn Lerchenbergs Kabarett-Rede zum Bier-Anstich der Münchener Paulaner Brauerei Anstoß genommen haben. Anstoß genommen haben offenbar deshalb, weil Sie uns warnen und sagen wollten, dass man nicht vergleichen dürfe (vielleicht sogar gleichsetzen dürfe), was Deutsche während des Dritten Reiches jüdischen MitbürgerInnen antaten und was heute im wachsenden Maße den Zwangsarbeitslosen in der Bundesrepublik angetan wird.

Ich kann Ihre Reaktion – so glaube ich zumindest – sehr gut verstehen. Aber – darf ich Ihnen das mitteilen? – Ihre Reaktion hat mich auch tief verletzt. Beides möchte ich Ihnen erläutern:

Natürlich verstehe ich, dass bei jedem Vergleich heutiger Geschehnisse, Entwicklungen, Aussagen mit denen während des Dritten Reichs (sowie der 'Aufstiegsgeschichte' der NSDAP in Deutschland) eine enorme Gefahr gegeben ist: das nämlich, was damals geschah, dadurch zu verharmlosen und/oder auch zu missbrauchen für heutige politische Zwecke. Wo immer ich diese Gefahr der Bagatellisierung zu sehen oder zu verspüren glaube, diese Gefahr des Missbrauchs, setze ich mich selber – seit Jahrzehnten meiner publizistischen Praxis inzwischen – gegen solche Relativierungen und Instrumentalisierungen von Auschwitz zur Wehr. Doch es gibt eine Kehrseite dieser dringlichst wieder und wieder erforderlichen Behutsamkeit und Genauigkeit, und diese möchte ich folgendermaßen auszudrücken versuchen:

Wir stehen nach meinem Eindruck in wachsendem Maße in der Gefahr, gegenwärtige Aussagen, Entwicklungen und Geschehnisse zu verharmlosen, und zwar in der Gestalt scheinlegitimierender Rückverweise auf das Dritte Reich. Da heute alles noch nicht so furchtbar wie damals ist – dies die untergründig wirksame Logik -, ist heute eigentlich gar nichts wirklich schlimm. Es habe jedenfalls, was heute geschieht, nichts, aber auch gar nichts mit dem zu tun, was damals während der Endphase der Weimarer Republik und während des Dritten Reichs geschah. Heißt: zum Schutz der Unmenschlichkeiten in der Gegenwart greift diese Art von 'Argumentation' unablässig aufs Vergleichen mit Auschwitz zurück. Adorno – Sie wissen, Ziel jeder Erziehung habe zu sein, dass Auschwitz nie wieder sei – hat diese fatale Reinwaschungslogik gegenüber allem, was heute geschieht, einmal so ausgedrückt (er bezog sich ebenfalls auf Auschwitz dabei): "Das Unmaß des Verübten schlägte dem Verübten zum Vorteil aus." Er hat zum einen damit gemeint, dass die schiere Unvorstellbarkeit von Auschwitz diese Verbrechen gleichsam vor ihrem Begreifen schützt. Doch zum anderen wollte Adorno mit diesen Satz auch noch auf anderes hinweisen: dass die Ungeheuerlichkeit von Auschwitz gleichsam seine gesamte Vorgeschichte belanglos erscheinen lässt (= weil das alles noch so ungleich weniger böse und schlimm war) und dass alles auch gleichsam belanglos erschiene, was heute an Entsetzlichkeit Auschwitz noch nicht gleicht. Unser Antifaschismus und unsere Mitmenschlichkeit geraten damit aber in Gefahr, in der Geschichte beerdigt zu werden. Und diese Abwehr des Vergleichens – was, sehr geehrte Frau Knobloch, keinesfalls automatisch und logischerweise ein Gleichsetzen ist! -, diese Wahrnehmungsunfähigkeit droht blind zu machen für das, was sich heute womöglich schon wieder vorzubereiten beginnt.

Ich möchte Ihnen das verdeutlichen an einem einzigen Beispiel:

Adolf Hitler hat in seinem Buch "Mein Kampf" wieder und wieder "die Juden" mit "Parasiten" und "Schmarotzern" verglichen. Dies war noch nicht Auschwitz, aber es war agitatorische Vorbereitung auf Auschwitz. Hinter dieser entmenschlichenden Metaphorik, die Menschen galt, lauerte gleichsam schon die chemische Vergiftung dieses "Ungeziefers". Ihnen muss ich als allerletzter erklären, was dieses, keine siebzehn Jahre später, für Juden bedeutete: eben genau dieses, die Vernichtung von Menschen, von unzähligen Juden aus ganz Europa (und von anderen Bevölkerungsgruppen gleich mit), mithilfe von giftiger Chemie, mithilfe von Zyklon B. – Meine Frau und ich, Jahrgänge 1950 und 1944, sind weinend durch Auschwitz gegangen – im Stammlager, vor allem aber dann in Auschwitz-Birkenau -, als wir diese Erinnerungsstätten furchtbarster fabrikmäßig betriebener menschlicher Grausamkeit vor vielen Jahren 'besuchten'. Abends, in Krakau zurück, waren wir außerstande, über diesen Tag miteinander zu sprechen.

Aber heute packt mich dieses Grauen wieder: es war ein Bundesminister, wie Sie wissen, ein angeblicher Sozialdemokrat zudem, der im Herbst des Jahres 2005 mit genau derselben "Parasiten"-Vokabel wieder auf Menschen zielte. Natürlich wieder nur – wie Hitler im Jahre 1924 – mit menschenverachtendem Gerede, nicht schon mit "Auschwitz" direkt. Doch ist da der Unterschied noch so groß? Wieder ging es gegen eine Minderheit, wieder gegen Menschen, die wehrlos sind. Und wenig später setzte ein weiterer Sozialdemokrat noch eins drauf und zitierte aus dem (gefälschten) zweiten Thessalonicher-Brief des Apostel Paulus in gefälschter Version: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen." Entschuldigen Sie bitte, aber dieser Satz ist ein Todesurteil, er stellt nichts anderes dar als die Quintessenz aus zwei anderen Sätzen (und den einen der beiden Sätze haben meine Frau und ich ja damals über dem Eingangstor vom Stammlager Auschwitz lesen müssen, und der andere ist heute noch nachzulesen in Buchenwald): "Arbeit macht frei" und "Jedem das Seine".

Ich habe eine große Bitte an Sie: bitte übersehen Sie nicht, dass wir bereits wiederum in einer Entwicklung begriffen sind, hier in Deutschland, die – nein, nicht "Auschwitz" selber, aber der Vorbereitung eines neuen "Auschwitz" zu gleichen beginnt. Und heute wie damals nimmt die Zahl 'präventiver' Selbstmorde unter den Betroffenen zu, nimmt die Angst zu, das Sichverstecken und Wegducken der betroffenen Menschen, das Abrücken anderer Menschen von ihnen (nicht selten bis in deren eigene Familien hinein), heute wie damals nimmt die Anzahl verbaler und tätlicher Angriffe auf die nunmehr stigmatisierte Bevölkerungsgruppe zu, heute wie damals arbeiten bereits ganze Verbände, Organisationen wie eben auch 'führende' Politiker daran, die Ausgrenzung einer ganzen Bevölkerungsgruppe, der Zwangsarbeitslosen, voranzutreiben in diesem Land und andere Bevölkerungsgruppen (die "Steuerzahler", die "Leistungsträger", die "Mitte der Gesellschaft") aufzuhetzen gegen diese zwangsarbeitlos gewordene Minderheit. Dass während des Dritten Reichs alles so schlimm wurde, so unsagbar furchtbar und entsetzlich und schlimm, darf uns nicht daran hindern zu erkennen, dass erneut die Gefahr heraufbeschworen wird, dass alles wieder so schlimm und entsetzlich und furchtbar werden könnte wie damals. Übertreibung? Ja, noch ist es eine Übertreibung. Aber: wie lange noch? Wenn die Gegenwart Auschwitz gleicht, ist es wieder einmal zu spät!

Ich sage es noch einmal in anderen Worten: wenn wir uns ausschließlich fixieren auf die Erscheinungsformen von Faschismus damals, auf Hakenkreuz und Massenaufmärsche, auf SA-Saalschlachten und den Davidstern zuerst auf den Fensterscheiben von Läden am 1. April 1933 und später dann auf Mänteln und Jacken, wenn wir uns darauf beschränken, Faschismus nur dort erkennen zu können und erkennen zu wollen, wo er die "Juden" meint und auf die "Juden" trifft, mit tödlicher Grausamkeit am Ende, dann haben wir – so meine ich allen Ernstes – Faschismus nicht wirklich begriffen! Faschismus kann auch auftreten mit Anzug und Schlips, Faschismus kann auch von einer ganz anderen Ecke her kommen als von rechts, Faschismus kann heute auch ganz andere Bevölkerungsgruppen treffen, als es damals der Fall war: Faschismus ist auch dieses. Faschismus immer noch in einem Anfangsstadium (wie ja auch Hitlers "Mein Kampf" 'nur' Anfangsstadium war, noch nicht Endpunkt!), aber doch auch dieses schon Faschismus.

Sie kennen wie ich Raul Hilbergs Lebenswerk über die Vernichtung der europäischen Juden. Lesen Sie bitte, falls Sie es für richtig halten, noch einmal nach, wie er diese verschiedenen Phasen der Judendiffamierung, Judendefinition, Judenerfassung, Judenentrechtung, Judenverfolgung und Judenvernichtung akribischst nachgezeichnet hat! Vielleicht verstehen Sie dann, dass ich an Lerchenbergs Äußerungen nicht wie Sie Anstoß nehmen kann, sondern im Gegenteil dankbar bin, dass endlich diese neuerlich in Gang gebrachte Stigmatisierungspropaganda gegenüber Menschen – diesesmal 'nur' anderen Menschen gegenüber – öffentlich angeprangert wird.

Ich hoffe, Sie glauben mir, dass ich hier nicht eine neue Opfergruppe 'erfinden' oder deren Schicksal hochdramatisieren möchte, auf dass endlich die alte Opfergruppe vergessen werde. Es ist genau umgekehrt: ich möchte nicht, dass wir im Blick auf die alte Opfergruppe übersehen, dass es bereits neue Opfergruppen gibt. Der Blick auf Geschichte sollte uns sehend und nicht blind machen gegenüber dem, was heute geschieht. Jedenfalls verstand ich mein Studium der Geschichte so, begriff ich so deren Wichtigkeit für mich und deren Bedeutsamkeit für uns alle (insbesondere für Menschen wie mich auf der Täterseite, in der Nachfolgeverantwortung zur Tätergeneration).

Es wäre gut zu hören und zu wissen, dass wir – Sie und ich – bei dieser Einschätzung nicht auseinander sind, sondern sehr nahe beieinander. Mit keinem Wort jedenfalls wollte ich Ihren Schmerz wegreden, aber doch darum bitten, mit mir wahrnehmen zu können, dass es inzwischen auch neue Schmerzen gibt, die Menschen alltäglich zugefügt werden, neue Demütigungen, Diskriminierungen, Beleidigungen, Verletzungen – und wieder einmal von staatlicher Seite aus, wieder einmal von oben her, wieder einmal einer Minderheit gegenüber.

Die Geschichte des Antisemitismus ist nicht zuendegeschrieben, ich befürchte, leider noch lange nicht. Die Geschichte anderer Verfolgungen aber auch nicht. Übersehen wir weder das eine noch das andere. Und vor allem: spielen wir nicht die eine Mitmenschlichkeit gegen die andere Mitmenschlichkeit aus! Mitleidswillkür darf es nicht geben im Namen von Humanität, sie höbe sich mit dieser Empathielotterie selber auf. Humanität ist eine ganze Sache oder gar nicht.

Mit herzlichen Grüßen
Ihr Holdger Platta

(Dieser Text erschien zuerst beim Spiegelfechter und wird hier mit der freundlichen Genehmigung des Autors wiedergegeben.)

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Anmerkung: Diesem Brief, der nach Aussage des Autors eigentlich gar kein "offener Brief" werden sollte, es wegen der nicht erfolgten Antwort dann aber doch geworden ist, habe ich gar nicht viel hinzuzufügen. Es ist beschämend und nicht nachvollziehbar, dass vom Zentralrat der Juden offenbar keinerlei schriftliche Reaktion erfolgt ist. Herr Platta schrieb dazu: "Zweimal sprach ich mit anderen Beschäftigten beim Zentralrat der Juden (telefonisch) über diese Anfrage. Diese beiden anderen Mitarbeiterinnen stimmten den Aussagen in meinem Text ohne jede Einschränkung zu. Und ganz ausdrücklich verneinten sie auch jeden Verdacht, dass man diesen Brief - an welcher Textstelle auch immer - als 'antisemitisch' bezeichnen könnte."

Immerhin hat man den Text dort also zur Kenntnis genommen - umso unverständlicher ist es, dass man sich bis heute nicht zu einer "offiziellen" Antwort durchringen konnte. Dabei liegen die Parallelen zwischen der Zeit der zuende gehenden Weimarer Republik und heute auch nach meiner Meinung klar erkennbar auf der Hand - ich habe dazu hier im Blog ja schon mehrfach Stellung genommen. Und es ist fast schon grotesk, dass im Zusammenhang mit dem Faschismus immer wieder darauf hingewiesen werden muss, dass Auschwitz natürlich nur die endgültige, allerletzte, im totalen, wahnsinnigen Extrem versinkende Erscheinungsform des Faschismus darstellt und dass es zuvor vieler verschiedener "Stationen" bedarf, bevor eine ganze Gesellschaft in einer solchen unmenschlichen, fast unbeschreiblichen Hölle versinken kann.

Die Beispiele für die heutige Zeit, die Platta in seinem Brief anführt, sind zweifellos schlüssig (wer sich das antun möchte: hier die Broschüre "Vorrang für die Anständigen" (pdf) vom damaligen Ministerium des Herrn Clement, der eigentlich nur noch das unterlegte Hakenkreuz auf jeder Seite fehlt), aber keineswegs die einzigen. Faschistische Denkstrukturen sind längst wieder hoffähig in diesem Land, und sie betreffen nicht nur Erwerbslose, sondern wieder einmal auch verschiedene andere Minderheiten wie beispielsweise Sinti und Roma, Muslime, Menschen mit dunkler Hautfarbe, "Ausländer" generell - und immer wieder geraten auch Alte, Kranke und Behinderte in die Schussbahn der so "Argumentierenden". Und heute wie damals muss man klar unterscheiden: Es gibt auf der einen Seite Menschen, die sich selbst keiner dieser Minderheiten zuordnen und in ihnen deshalb "Feindbilder" zu erkennen glauben, weil sie selber Angst vor Arbeitslosigkeit, Armut, existenzieller Not haben. Und es gibt auf der anderen Seite jene, die wissen, dass diese "Feindbilder" nur konstruiert und instrumentalisiert werden, um von den wirklich Schuldigen für die tatsächlich vorhandene Bedrohung abzulenken. Daran hat sich in den vergangenen 100 Jahren offensichtlich nichts geändert. Wenn man Faschismus "verstehen" will, ist es unumgänglich, sich dies immer wieder bewusst zu machen.

Um es auf den Punkt zu bringen: Nicht Erwerbslose, Muslime, Menschen mit Pickeln, grünen Haaren oder Dreibeinige sind Schuld an der drohenden Katastrophe des materiellen Absturzes, sondern eine handvoll habgierige Superreiche, die zu ihren bereits vorhandenen Milliarden noch stetig weitere Millionen haben wollen. Solange diese erbärmliche Binsenweisheit nicht auch bis ins letzte manipulierte Deppenhirn vorgedrungen ist, solange wird es faschistische Tendenzen - im Extremfall auch bis hin zu Auschwitz - immer wieder geben.

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(Titelseite des Nazi-Hetzblattes "Der Stürmer", Sondernummer 1 aus dem Mai 1934, in der eine "jüdische Weltverschwörung" erfunden wird)

Montag, 11. März 2013

Zitat des Tages: Abend im März


Ich trete in die Türe ein,
Der Mond war vor mir dort.
Ach Mond, du sollst nicht bei mir sein!
Er schweigt und geht nicht fort.

Er wohnt in meiner Stube drin
Seit gestern, als ich kam.
Ich seh ihn, weil ich traurig bin,
Und kenn ihn nur im Gram.

Ich zünde keine Lampe an,
Ich setz mich in sein Licht.
Durchs Fenster blick ich dann und wann,
Der Mond erkennt mich nicht.

So ess ich einen goldnen Fisch,
Gieß Wasser mir ins Glas,
Wie eine Wiese ist der Tisch,
Im Mondlicht wächst das Gras.

Jetzt wird er bald verfinstert sein,
Wohl gegen Ende März.
Und sinnlos fällt das Wort mir ein:
"Er ist der Nacht ihr Herz."

Er ist so blind, er ist so taub,
Ihn kümmern Tränen nicht.
Er schwankt im Wind, er hängt im Laub,
Ach mit demselben Licht.

(Günter Eich [1907-1972], in: "Abgelegene Gehöfte". Gedichte, 1948)


(Bild: Ullstein-Verlag)

Korruption, Machtmissbrauch, Vorteilsnahme im Amt: Der politische Alltagssumpf in Deutschland


Wenn Politiker übergriffig werden / dann müssen Journalisten darüber berichten. Sie müssen die übergriffige Tat sauber recherchieren und beschreiben. Die Konsequenzen daraus muss dann jeder Leser, Hörer oder Zuschauer selbst ziehen, ggf. muss auch die Justiz tätig werden. Wenn das funktioniert, funktioniert der Rechtsstaat, dann nehmen wir Journalisten unser Wächteramt wahr. / Nun funktioniert aber dieses Modell zunehmend nicht mehr. (...)

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Anmerkung: Ich bitte inständig darum, diese haarsträubende Geschichte eines Journalisten, der seine ganz eigenen Erfahrungen mit regionalen CDU-"Granden" gemacht hat, dringend zu lesen - ich war zwar nicht überrascht, dafür aber zutiefst schockiert darüber, welche Ausmaße die kriminelle Energie und die mafiösen Strukturen in den kaum mehr zu trennenden Bereichen der Schein-Politik und Wirtschaft bis hinab auf die kleinste regionale Ebene bereits angenommen haben. Gleichzeitig dürfen wir anhand dieses Beispiels nicht dem schönen, aber weltfremden Irrglauben anheim fallen, dies beträfe ausschließlich die Union und deren gelben Wurmfortsatz - es gibt genügend Anzeichen und auch Beispiele dafür, dass sämtliche etablierte Parteien nach genau denselben Strickmustern agieren, wenn sie einmal an den Schalthebeln der Macht sitzen.

Der Autor nimmt seine Erlebnisse zum Anlass, die Funktion des Journalismus' in einer Demokratie in Frage zu stellen und einen Abgesang auf den kompletten Rechtsstaat gleich mit anzustimmen: "Vollends irritiert hat mich, dass die vier Kollegen, die ähnliche Erfahrungen mit übergriffigen CDU-Politikern gemacht haben wie ich, von diesen Amtsträgern mit Bananerepublikverständnis so eingeschüchtert waren, dass sie dringend um Anonymität gebeten haben. Sie arbeiten frei unter anderem auch für regionale und lokale Zeitungen und befürchten, nicht mehr beschäftigt zu werden, wenn ihre Identität bekannt würde." Diesen Sachverhalt kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen - das ist einer der Gründe, weshalb ich hier unter einem Pseudonym blogge.

Wenn sich bereits auf der kleinsten regionalen Ebene solche mafiösen Strukturen herausgebildet haben, ohne dass dies einer breiteren Öffentlichkeit bekannt oder bewusst ist oder es gar strafrechtlich verfolgt wird, bedarf es keiner überbordender Fantasie um sich auszumalen, was auf Länder- und Bundesebene oder gar in EU-Kreisen vor sich ging und geht. Viele Begebenheiten - nicht nur aus der jüngsten Zeit -, die schlicht unverständlich und absurd wirkten, werden vor einem solchen Hintergrund schnell nachvollziehbarer und gleichzeitig auch wesentlich bedrohlicher. Das politische und wirtschaftliche System (nicht nur) in diesem Land ist durch und durch korrupt und verkommen, und es erscheint zunehmend weltfremder, es bekämpfen zu wollen, ohne diese Strukturen nahtlos offenzulegen, rückstandslos abzuschaffen und durch neue, andere Systeme, die weniger anfällig für Kriminelle sind, zu ersetzen.

Selbstverständlich ist auch dies nicht alternativlos. Die Alternativen, die mir hierzu einfallen, lauten beispielsweise: 1. Ein neuer Totalfaschismus samt zugehörigem totalem Krieg, 2. ein totalüberwachter Faschismus Orwell'scher Prägung mit "weiter entfernt" stattfindenden Kriegen, 3. ein Rückfall in die Steinzeit, wo das altbekannte Spiel "Hihi - nur der Stärkere überlebt, ätsch!" von Neuem beginnt, 4. eine beliebige andere Diktatur, in der wiederum eine kleine "Elite" das Sagen, die Macht und den Luxus besitzt und der große Rest der Menschheit dumm in die Röhre guckt. Es gibt sicher noch weitere Alternativen ähnlich fröhlicher Natur, gerne auch unter Einbeziehung irgendwelcher Religionen, die allesamt in dieselbe ekelerregende Richtung führen.

Es ist einmal mehr an uns zu wählen. Und ich weiß bereits jetzt, welche Alternative gewiss nicht gewählt wird. Dafür werden sie sorgen. Wie immer.

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"Bleibe stets unbestechlich, mein Sohn! Wenn du dann bestochen wirst, bekommst du viel höhere Preise."

(Zeichnung von Thomas Theodor Heine [1867-1948], in "Simplicissimus", Heft 49 vom 02.03.1925)