Freitag, 12. Juli 2013

Zitat des Tages: Ein Schatten


Sterben, sagte Marianne, ist furchtbar.

Ich war neun Jahre alt, da schreckte uns mitten in der Nacht das Telefon auf. Vater ging hinunter, und als er zurück kam, zu Mutter ins Zimmer trat, wusste ich: Großvater ist gestorben. Sechzehn war ich, als Großmutter ihm folgte.

Seit drei Jahren konnte sie das Haus nicht mehr verlassen. Immer mehr näherte sich damals ihre gekrümmte Gestalt dem Erdboden und damit ihm. Sie saß im Sessel. Da kam ein Schatten. In ihrem Gesicht schlug er sich nieder. Er huschte vom Kinn gelb über die Nase. Als er ihren Haaransatz über der bleichen Stirn erreichte, starb sie.

Der Schatten wich.

Immer lautlos kommt er. Ein Hauch, der verweht, wenn er in die Haare gelangt, sich selbst verlebt, sobald es vorbei ist. Meine Mutter flüsterte, als er in ihr Zimmer kam, der Wand nachschlich und zuerst ihre Hände überhuschte: Nun atme ich nur noch aus. Er stand schon in ihrem Gesicht, und mit einem Lächeln spielte sie ihn sich selbst ins graue Haar. Er konnte gehen. Diese Geschichten, meinte Marianne, schmerzen.

Aber man muss auch sie erzählen.

Du kannst die Fenster schließen. Du kannst das Licht ausmachen. Aber lautlos wird er kommen.

Sie soll dich nicht erschrecken, auch wenn sie traurig ist, diese Schattengeschichte.

(Silvio Blatter [*1946]; aus: "Brände kommen unerwartet", Zürich 1968)

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Anmerkung: Wer einmal miterleben musste, wie ein Mensch - ein geliebter zumal - seinen letzten Atemzug tut, der weiß, wie unsäglich betäubend sie ist - diese grausame, eiserne, leere, unerbittliche Stille danach. Dieses Geräusch des letzten Ein- und Ausatmens werde ich niemals vergessen, bis auch meine Lungen sich zum letzten Mal mit Luft füllen.

Dazu ein kleiner, sehr persönlicher Auszug aus einem langen Tagebucheintrag, den ich ca. sechs Monate nach dem qualvollen Tod meiner Mutter geschrieben habe:

"Dann brach die letzte Nacht an. Mein Vater und ich waren am Mittwoch daheim. Da er aber seit mehreren Tagen nicht mehr geschlafen hatte, habe ich ihn gegen 4:00 Uhr morgens eindringlich gebeten, sich hinzulegen, was er auch getan hat. Meine Mutter lag unbeweglich in ihrem Bett, mit Sauerstoffschläuchen in ihrer Nase. Sie atmete sehr schwer; es war so laut, dass man es im ganzen Haus hörte. Dieses qualvolle, heftige, laute Atmen, das die ganze Zeit über die Luft erfüllte, werde ich niemals vergessen. Gegen 5:00 Uhr fing die Atmung plötzlich an, unregelmäßiger zu werden. Ab und zu setzte sie aus, und ich dachte einige Male, dass es nun soweit sei … aber immer fing sie erneut an zu atmen, heftiger und lauter noch als zuvor. Doch um 7:00 Uhr veränderte sich etwas. Die Atmung wurde flacher, setzte immer öfter aus. Das Herz schlug unregelmäßig, begann zu 'flimmern'. Und dann, nach einer langen Atempause von fast einer Minute, setzte sie noch einmal zu einem tiefen Atemzug an, den sie dann in einem unsäglich langen, tiefen Seufzer aus ihrer lädierten Lunge entließ – und fast zeitgleich setzte das Herz aus. An diesem Tag um 7:15 Uhr in der Frühe ist meine Mutter gestorben. (...)

Ich hielt ihre Hand und war fassungslos. Es war wie ein Film, den ich erlebte, und der mit der Realität nichts zu tun hatte, wie mir schien. Ich sehe mich noch immer an diesem Sterbebett stehen, die Hand meiner Mutter in meiner eigenen, als sei ich ein dritter Beobachter dieser Szene. Und ich sehe ihr Gesicht, den geöffneten Mund, die geschlossenen Augen, und die unbeschreiblichen Veränderungen, die an diesem Körper vonstatten gingen, sobald das Leben aus ihm gewichen war. Ich habe sie kaum wiedererkannt. – Ohne dass ich ihn gerufen hätte, erschien zu diesem Zeitpunkt plötzlich mein Vater im Zimmer und sah sofort, was geschehen war. Er ging zu der Uhr, die im Wohnzimmer an der Wand hängt und die meine Mutter so gemocht hatte, und hielt das Pendel an. Sie steht noch heute auf 7:16 Uhr. (...)

Und dann war es die STILLE, die plötzlich im Haus herrschte, die mich umwarf. Das laute, regelmäßige, heftige Atmen, das so viele Tage ununterbrochen durch die Zimmer gezogen war, Tag und Nacht, es war verstummt. Diese Stille des Todes, die sich wie ein Leichentuch über das Haus stülpte und die mich meinen eigenen Herzschlag am Hals ganz deutlich hören und spüren ließ. Ich zitterte am ganzen Körper und blickte dem Tod ins Gesicht. Und es war auch der Tod meiner Vergangenheit, meiner Kindheit und Jugend. Auch ein Stück meines eigenen Lebens war gestorben."

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Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.

(Rainer Maria Rilke)

Mittwoch, 10. Juli 2013

Song des Tages: Under The Milky Way




(The Church: "Under The Milky Way" (Acoustic Version), aus dem Album "Starfish", 1988)

Sometimes when this place gets kind of empty
Sound of their breath fades with the light
I think about the loveless fascination
Under the milky way tonight

Wish I knew what you were looking for
Might have known what you would find

And it's something quite peculiar
Something that's shimmering and white
Leads you here despite your destination
Under the milky way tonight

Wish I knew what you were looking for
Might have known what you would find
Wish I knew what you were looking for
Might have known what you would find

Lower the curtain down in Memphis
Lower the curtain down alright
I got no time for private consultation
Under the milky way tonight

Wish I knew what you were looking for
Might have known what you would find

Under the milky way tonight


Anmerkung: Die Arschlöcher der Galaxie (Menschen) sind im äußeren Randgebiet, auf dem Bild rechts unten (wo auch sonst) zu finden. Andere Spezies sollten diese Region tunlichst meiden - hier hat die Evolution auf ganzer Linie versagt und ein temporäres Krebsgeschwür erschaffen, das sich selbst samt seiner Umwelt gnadenlos auffrisst. Ansteckungsgefahr besteht für intelligente Wesen zwar nicht, aber das Schauspiel ist dennoch dermaßen unappetitlich, dass vor Reisen in diese Region der Galaxie schon aus ethischen und Gründen der psychologischen Gesundheit gewarnt wird.

Meanwhile in Germany, oder: Die Arschlochrepublik


86-jährige Schwarzfahrerin muss ins Gefängnis

Eine 86-jährige obdachlose Frau ist wegen wiederholten Schwarzfahrens ins Gefängnis gebracht worden. Keinem der beteiligten Beamten sei dies leicht gefallen, sagte ein Sprecher der Bundespolizei am Donnerstag. / Die mittellose Frau hatte die Strafe von 400 Euro plus 74 Euro Gebühren nicht bezahlen können und muss nun 40 Tage in Gelsenkirchen in Haft.

(Quelle)

Anmerkung: Das ist eine dieser obszönen "Nebenbei-Meldungen" der Systemmedien, die wunderbar illustrieren, an welchem schwindelerregenden Punkt auf der Skala der Menschenverachtung dieser Staat und mit ihm seine Propagandamedien inzwischen angekommen sind. Ich kann das kaum weiter kommentieren, mir fehlen angesichts solcher Untaten schlicht die angemessenen Worte. In einem Land, in dem so etwas ohne einen entsprechenden (Medien-)Aufschrei passiert, will kein Mensch mit einem einigermaßen funktionierenden Gehirn leben.

Da haben sich wirklich alle Beteiligten wie Extremarschlöcher verhalten - die Verkehrsbetriebe ebenso wie die beteiligten Polizei- und Justizbeamten, die Richter ebenso wie die Schleimbeutel in den Redaktionen. Einzig die in Rede stehende Frau kann und darf man nicht verurteilen - wie um alles in der Welt soll eine mittellose, uralte Frau ohne öffentliche Verkehrsmittel denn bitte von A (beispielsweise von ihrem "Zuhause" unter der Brücke) nach B (beispielsweise zum Arzt oder zur Armenspeisung) kommen, ohne "schwarzzufahren"? Ich höre die Kapitalgläubigen förmlich schwadronieren: "Ja, wenn die Oma sich den Bus nicht leisten kann, soll sie eben joggen, unter der Brücke verschimmeln oder ein Taxi nehmen ..." - Es ist dieser widerlichen Bande noch nicht genug, eine alte Frau auf der Straße leben zu lassen - nein, damit ist sie noch lange nicht genug bestraft für ihre Armut. Immer feste druff, wir leben schließlich in Deutschland.

Die stecken eine mittel- und obdachlose Greisin wegen "Schwarzfahrens" in den Knast und drücken auch noch scheinheilig ihr "Bedauern" aus ... einmal mehr fasse ich es nicht. Außerdem lernen wir: Ein Tag "Freiheit" in Deutschland ist nach amtlichen Maßstäben exakt 11,85 € wert. - Es fehlt nicht mehr viel, dann verschwinde ich - nicht ohne endlose Kotzorgien - endgültig aus diesem Horrorstaat.

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Der Tod und die [deutsche] Hausfrau


"Allmächtiger Gott! Er hat meine Wäscheleine zerschnitten!"

(Zeichnung von Anton Hansen [1891-1960], in "Simplicissimus", Heft 28 vom 06.10.1924)