Montag, 24. November 2014

Zitat des Tages: Gesang der Rudersklaven bei Sturm


Es leidet, o Herr, deine Erde
An Untergehenden
Keinerlei Mangel! Noch kannst du wenden
Von uns dein Angesicht!
Was taugen wir angekettet der Welt auf dem Grund des Wassers?
Ziehe du ab von uns
Deine sausende Hand, peitsche
Deine christliche See über andere Meere
Und lass uns leben, leben, leben, o Herr
Auf der Galeere!

(Richard Leising [1934-1997], in: "Gebrochen deutsch. Gedichte", Langewiesche-Brandt 1990)



Anmerkung: Zu diesem Meisterwerk der politischen Lyrik in der Tradition Brechts muss ich nicht viele Worte verlieren: Es ist höchste Sprachkunst, wie Leising hier das altbekannte politisch-mediale-gewerkschaftliche Geplärre um den "Erhalt von Arbeitsplätzen" mit einer Religionskritik verbindet, die selbstverständlich gleichzusetzen ist mit einer generellen Kapitalismuskritik. Die furchtbare kapitalistische Ideologie ist längst zur perversen Religion degeneriert - freilich ohne dass dies, weder von den betroffenen "Rudersklaven", noch von den selbsternannten "Eliten" bzw. "Göttern" und deren mannigfaltigen Handlangern, offen anerkannt oder auch nur gedanklich gestreift wird. Aus künstlerischer Sicht ist es ein Meilenstein, eine derartig groteske, geradezu kranke Situation in so wenigen, klar verständlichen Worten komprimieren zu können - aus humanistisch-gesellschaftlich-sozialer Sicht ist es hingegen ein Fanal des Niedergangs, es tun zu müssen.

Dieses Gedicht kommt mir seit Jahren immer wieder in den Sinn, wenn ich irgendwo Streikende mit Plakaten wie "Wir kämpfen für den Erhalt unserer Arbeitsplätze!" sehe - trotz meines Verständnisses für die berechtigte Angst der Betroffenen vor dem sozialen Absturz. Wenn Sklaven für den Erhalt ihrer Sklavenarbeit demonstrieren, ohne das "göttliche" Prinzip des absurden Superreichtums ihrer "Herren" überhaupt in Betracht zu ziehen (geschweige denn, es endlich wieder in Frage zu stellen), ist jede Hoffnung längst obsolet.

Die Brisanz und die Relevanz dieses Gedichtes haben - welch ein Irrsinn - in den vergangenen 24 Jahren stark zugenommen. Der "göttliche Sturm" droht einmal mehr zum umfassenden Menschenfresser zu werden. Und viele schreien auch heute quasi betend wieder: "Friss nicht mich, friss doch lieber das andere Pack, dem es noch schlechter geht als mir!" - Und die einzigen Nutznießer dieser perversen, menschenfeindlichen Zeitschleife, eben jene Betreiber der Galeeren, bleiben heute wie damals weitgehend unbehelligt - heute allerdings noch weitaus mehr als damals:

---

Die reichen [Steuerkriminellen]


"Ich habe dir ein paar deutsche Zeitungen mit den neuen Steuergesetzen gekauft. Falls du wieder Heimweh kriegst, Schatz."

(Zeichnung von Otto Ottler [1891-1965], in "Simplicissimus", Heft 19 vom 05.08.1919)

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Wir stecken tiefer in der grütze als JEMALS vorher. Danke für dieses weit zu verbreitende Kleinod!