Dienstag, 3. Februar 2015

Zeitzeugen sprechen über Auschwitz (5): Schnipsel des alltäglichen Horrors


Der folgende Text ist ein kurzer Auszug aus der Zeugenaussage des Sozialisten und Holocaust-Überlebenden Hermann Reineck, die im Rahmen des sogenannten 1. Frankfurter Auschwitzprozesses am 05.06.1964 dokumentiert wurde. Die komplette Aussage kann - ebenso wie unzählige weitere Zeugenaussagen - auf den Seiten des Fritz-Bauer-Instituts nachgelesen und auch im Original angehört werden.

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Ich glaube, mich richtig erinnern zu können, dass der Anlass für eine Exekution auf Block 11, das heißt also im Hof zwischen 10 und 11, ein Anschlag auf einen Polizeioffizier in Krakau war, wo man als Repressalie dafür eine große Anzahl von Polen erschossen hat, die aus dem Distrikt Krakau waren; von denen also willkürlich, [...] von A angefangen, eine bestimmte Anzahl herausgesucht worden ist nach dem Alphabet und die erschossen worden sind.

[...] Und damals ist Klehr – es war damals Lagersperre, und wir haben gewusst, was los ist, dass Exekution ist, und letzten Endes hört man es ja auch –, vom Block 11 gekommen zu uns auf die Schreibstube und hat also die Nummern der Exekutierten gebracht. Und Klehr hat damals ein Gewehr getragen. Ich sehe ihn heute noch vor mir stehen. Dieses Erlebnis ist mir vielleicht deshalb so stark in Erinnerung, denn die Exekutierten wurden später von Häftlingen auf Wagen herausgezogen. Und diese Wagen, sie hatten so schiefe Bordwände, die waren ja nicht dicht. Und jetzt ist das Blut heruntergeronnen und hat auf der Straße lauter Streifen hinterlassen. Und der Weg von Block 11 bis zum Lagertor, der geht durchs ganze Lager, denn das ist das entgegengesetzte Ende.

Das war im Sommer, [...] [da] hat sich das längere Zeit auf der Lagerstraße gehalten, und es war so deprimierend. Ich weiß nicht, waren es damals hundert, die erschossen worden sind? Aber hundert waren nichts in Auschwitz. Wir haben gewusst, dass zur selben Zeit ein Transport in Birkenau angekommen ist mit ein paar tausend Menschen, die sofort in die Gaskammer gegangen sind. Aber der optische Eindruck, der war [...] so erschütternd.

[...]

Ich habe diesen Häftling [namens Szende] kennengelernt. Er war aus Wien, er war Jude, und er war ein sehr intelligenter Mensch. Er hat in Wien einen Filmverleih früher einmal gehabt. Und er ist mit seinem Sohn nach Auschwitz gekommen. Der Sohn, ich weiß nicht mehr, war neun, zehn, zwölf Jahre alt. [...]

Und dieser Szende war zuerst im Stammlager und ist später dann, ich glaube, nach Monowitz gekommen in die Kohlengruben, oder Jawischowitz [...] oder Sosnowitz, ich weiß nicht, in ein Nebenlager ist er gekommen. Ich habe dann nichts gewusst von ihm. Und später ist er zurückgekommen nach Auschwitz. Und wir haben ja Verlegungsmeldungen von den Nebenlagern im Häftlingskrankenbau bekommen. Wenn also ein Häftling von einem Nebenlager in den Krankenbau des Stammlagers verlegt wurde, haben wir in der Schreibstube diese Meldung bekommen. Und eines Tages sehe ich die Meldung, der Szende ist gekommen. Erst habe ich gleich rausgesucht, wo er ist, und habe mich bemüht, mit den Häftlingsärzten zu sprechen und einmal zu schauen, was mit ihm los ist. Nun, er hat so schwere Erfrierungen an den Händen und Füßen gehabt. Und einen französischen Arzt, einen gewissen Doktor Steinberg, mit dem ich auch sehr gut befreundet war, habe ich gebeten, zu machen, was ihm möglich ist. Ich habe es selbst gesehen, die vorderen Gliedmaßen der Finger waren schwarz, und es hat bereits der Knochen rausgeschaut, und keine Nägel [mehr] da – furchtbar. Und [Doktor Steinberg] hat befürchtet, dass die Erfrierungen auch den Mittelhandknochen ergriffen haben und dass also eine Amputation im Handgelenk durchgeführt werden muss. Und ein Mensch ohne Hände in Auschwitz ist nicht arbeitsfähig. Er ist zum Tod verurteilt.

Und eines Tages war es eben soweit, und der Szende ist auch ausgesucht worden und ist mit einem Transport ... Also, es sind nicht alle Häftlinge, die bei Selektionen im Krankenbau – vor allem, wenn es sich um größere Menschengruppen gehandelt hat – durch Injektionen [getötet worden], sondern sie sind auch in die Gaskammer gegangen. Und diese Häftlinge sind dann mit Lastautos abgeholt worden und nach Birkenau geführt worden. Und durch einen Zufall, ich weiß nicht, wie es vor sich gegangen ist, hat sein Bub, der bei uns im Stammlager war, davon erfahren. Und es war so eine erschütternde Szene [Zeuge weint]. Der Vater wird auf den Lastwagen aufgeladen, und der Bub kommt hin und ...

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Die letzte Reise



(Gemälde von Vasily Perov [1834-1882] aus dem Jahr 1865. Öl auf Leinwand, Galerie Tretyakov, Moskau)

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