Mittwoch, 18. Februar 2015

Zeitzeugen sprechen über Auschwitz (9): Schnipsel des alltäglichen Horrors


Der folgende Text ist ein kurzer Auszug aus der Zeugenaussage des Kommunisten und Holocaust-Überlebenden Hermann Holtgreve, die im Rahmen des sogenannten 1. Frankfurter Auschwitzprozesses am 31.07.1964 dokumentiert wurde. Die komplette Aussage kann - ebenso wie unzählige weitere Zeugenaussagen - auf den Seiten des Fritz-Bauer-Instituts nachgelesen und auch im Original angehört werden.

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In dem Jahre 1944 [Pause], ausgerechnet grade entweder eben vor Weihnachten oder auch gleich zu Heiligabend, [standen] zu beiden Seiten der Lagerstraße hohe Tannenbäume, die hell erleuchtet waren. Auf der rechten Seite, nach der Häftlingsküche ausgerichtet, hinter diesem Tannenbaum, stand ein großer Galgen. Und es wurden drei, es können auch vier Häftlinge gewesen sein, herangeführt. Und als diese Häftlinge oben das Podium betraten, da riefen die Häftlinge aus: "Es lebe der Sozialismus!" Daraufhin ist Herr Kaduk hergekommen und hat seinen Häftling erst noch verprügelt, und dann hat er ihm den Strick um den Hals gelegt. Herr Hofmann hat eigenhändig [den übrigen Häftlingen] den Strick um den Hals gelegt und auch den Schemel weggestoßen. [...] Anschließend hat Herr Hofmann eine Rede gehalten. Und zwar gipfelte die Rede darin, dass er sagte, diese Häftlinge würden zur Abschreckung für die anderen aufgehangen, und sie sollten drei Tage hängenbleiben, und dieses ist auch geschehen.

[...]

Und dann sagte Herr Hofmann [zu mir]: "Sie wissen doch, dass unser Führer ein Judenpogrom zu lösen" hätte. Ich habe die Frage bejaht, denn es blieb mir ja nichts anderes über. Dann bin ich mit diesen 100 Häftlingen rausmarschiert durchs Lagertor. Wir wurden draußen von der Wachmannschaft eingekreist, und so marschierten wir auf das Arbeitskommando zu. Als wir dort angekommen sind, verteilte sich die SS, so dass wir in der Mitte waren und die SS einen Ring bildete. Ich sagte zu den jüdischen Häftlingen: "Seid vorsichtig! Jeder, der außerhalb der Postenkette geht, wird ›auf der Flucht‹ erschossen."

Die Toilette wurde absichtlich außerhalb der Postenkette aufgestellt, so dass, wenn ein Häftling austreten musste – und man kann sich wohl vorstellen, dass Häftlinge aus der Strafkompanie wohl ziemlich durcheinander sind, [angesichts der] Angst, die sie haben. Und so sind Verschiedene durch die Postenkette gelaufen, und zwar auf folgende Weise: Man hat diesem Häftling, wenn er an diesen SS-Mann herantrat, die Mütze vom Kopf gerissen und hat sie außerhalb der Postenkette hingeschmissen und hat ihm dann gesagt, er soll die Mütze holen. Und bei diesem Mützeholen wurde dieser Häftling erschossen.

Ich darf wohl sagen, dass gerade an diesem Tag, meiner Meinung nach, eine regelrechte Treibjagd gewesen ist auf Häftlinge. Und so hatte ich an diesem Tage 28 Tote. Herr Hofmann kam im Laufe des Nachmittags mit einem Lkw herausgefahren und hatte sich dort mit dem Kommandoführer unterhalten. In der Regel war es ja so, dass wir Häftlinge unsere toten Kameraden ja immer selbst mit ins Lager bringen mussten. Aber in diesem Fall schickte Herr Hofmann einen Lkw heraus, und die Toten wurden darauf verladen. Ich gab des Abends nach dem Appell den Zettel ab, worauf die einzelnen Nummern der Häftlinge standen, und somit war dieser Tag beendet.

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Landschaft mit Grab, Sarg und Eule



(Zeichnung von Caspar David Friedrich [1774-1840] aus dem Jahr 1836/37. Bleistift und Sepia auf Papier, Kunsthalle Hamburg)

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