Samstag, 31. Januar 2015

Zeitzeugen sprechen über Auschwitz (3): Schnipsel des alltäglichen Horrors


Der folgende Text ist ein kurzer Auszug aus der Zeugenaussage des Schriftstellers und Holocaust-Überlebenden Hermann Langbein, die im Rahmen des sogenannten 1. Frankfurter Auschwitzprozesses am 06.03.1964 dokumentiert wurde. Die komplette Aussage kann - ebenso wie unzählige weitere Zeugenaussagen - auf den Seiten des Fritz-Bauer-Instituts nachgelesen und auch im Original angehört werden.

---

Ich bin im August 1942, am 20. August, von Dachau nach Auschwitz überstellt worden. [...] / Damals, wenn ich mich richtig erinnere, waren es vor allem französische und holländische Judentransporte, die nach Auschwitz kamen; das sind die Leute, die nicht sofort bei der Ankunft vergast worden sind. Über die hatten wir keinerlei Karteikarten und keinerlei Unterlagen. Sondern das sind nur diejenigen, die an der Rampe ausgesucht wurden als arbeitsfähig und ins Lager eingewiesen wurden. Nur über die gab es Unterlagen in den Schreibstuben. Diese starben also in einer Geschwindigkeit, die für jeden, der das sehen musste, papiermäßig sehen musste auch nur, beklemmend war.

Dieser erste Eindruck hat – ich möchte fast sagen – gezeigt, wie relativ alle diese Begriffe sind, wie relativ zum Beispiel alles war, was ich in Dachau erlebt habe, wo ich nicht sehr viel Schönes erlebt habe. Aber Dachau wirkte aus der Perspektive von Auschwitz nahezu wie ein Idyll. Bitte, mich nicht misszuverstehen, dass in Dachau Verhältnisse waren, die idyllisch gewesen wären. Ein zweiter Unterschied, der sehr krass war im Verhältnis zu dem, was ich in Dachau erlebt habe, war die sogenannte Lagerhierarchie, die Lagerprominenz. Es ist bekannt – sicherlich auch hier schon –, dass die SS ein System entwickelt hat in den Konzentrationslagern, dass sie die Häftlinge gegeneinander ausspielte und untereinander Unterschiede machte.

[...]

Das war die Atmosphäre, die also sehr unterschiedlich in Auschwitz gegenüber Dachau war. Wir sind in der Nacht angekommen, wie es noch dunkel war, und mussten uns beim Tor aufstellen und warten, bis der Morgenappell abgehalten worden ist, und dann marschierten die Kommandos aus. Und wir sahen die Kommandos, die einen sehr unterschiedlichen Eindruck machten [im Vergleich] zu denen in Dachau, die auch keinen sehr erfreulichen Eindruck [machten]. Wir sahen Menschen, die dermaßen heruntergekommen waren körperlich, dass sie sich kaum auf den Füßen halten konnten. Und wir sahen Kapos, die sehr wohlgenährt waren.

[...]

Wenn ich noch eine Episode schildern darf, [...] weil sie auch für die Lageratmosphäre kennzeichnend war. [...] Das Fenster ging damals von meinem Krankenzimmer auf Block 28 hinaus zum Stacheldraht [...]. Und ich sah, dass mit furchtbarem Lärm eine ganze Gruppe von Häftlingen dort zwischen Stacheldraht und Block 28 in diesen schmalen Gang getrieben wurde. Eine Reihe von Kapos war dabei, und [die] SS hat diese ganze Aktion beaufsichtigt. Ich hörte: "Ausziehen! Ausziehen! Flott, flott!" Es war damals November, also eine kalte Jahreszeit. Die Leute mussten sich ausziehen, und es war schlimm zu sehen, offensichtlich wussten sie es, und wer wusste es nicht in Auschwitz, was das bedeutet.

Sie waren ausgesucht worden beim Ausmarschieren der Kommandos als arbeitsunfähig, weil sie schon schlecht gingen. Und ich sah es, und das vergesse ich auch nicht, sie haben sich dort ausgezogen, und wenn der SS-Mann sich umgedreht hat, hat er sich bemüht, sich schnell wieder ein bisschen anzuziehen, damit er das Ausziehen verzögern könnte. Dann waren sie nackt, dann wurde jedem die Häftlingsnummer mit Tintenstift auf die Brust geschrieben. [...]

Sie wurden dann hinaufgejagt auf den Gang vor meiner Tür. Dort standen sie, und scheinbar hat es mit der Anforderung der Lastwagen nicht geklappt. Wenn eine größere Zahl war, wurden sie immer ins Gas geschickt, kleinere Zahlen wurden [zu Tode] "gespritzt", und größere wurden immer vergast. Und sie haben natürlich kein Essen mehr bekommen, sie waren schon abgeschrieben von der SS. Sie haben kein Wasser mehr bekommen, man ließ niemanden raus, weil sie Angst hatten, die Leute werden sich irgendwo verstecken. Die einzige Möglichkeit, dass sie beim Klosett Wasser tranken, war gegeben. Die einen sind schon am Boden gelegen. Einzelne waren schon tot, einzelne lagen neben ihnen, ohne sich von den Toten wesentlich zu unterscheiden. Und spät am Abend, glaube ich, sind dann die Lastwagen gekommen und haben auch diesen Transport weggebracht. [Pause]

Das war das Klima, das in Auschwitz herrschte in dieser Zeit. Und das Klima, wenn man das nicht kennt und nicht versteht, kann man unmöglich sich vorstellen, wieso die einzelnen SS-Leute solche Dinge gemacht haben. Das Menschenleben galt nichts. Einen Menschen zu töten war eine Kleinigkeit, war überhaupt nicht der Rede wert. Und die Machtfülle, die ein SS-Mann, auch der kleinste SS-Mann, den Häftlingen gegenüber hatte, war unvorstellbar. Und aus dieser Machtfülle heraus und aus dieser Einstellung heraus: Diese Leute müssen ja sowieso sterben, die sind ja schon Tote auf Urlaub sozusagen, aus dieser Einstellung heraus habe ich mir nur erklären können das, was geschah [...].

[...]

Ich habe dann mir einen Krankenblock angeschaut, und zwar war das der Krankenblock, in dem auch die Frauen gelegen sind, die entbunden haben. Im Zigeunerlager kamen auch Kinder zur Welt. Ich habe viel gesehen in Auschwitz. Tote waren für uns eine Alltäglichkeit. Man ist furchtbar hart geworden in Auschwitz, so hart, dass man manchmal Angst gehabt hat, ob man wieder ins normale Leben zurückfindet. Aber was ich dort gesehen habe, das war schlimmer als alles andere. Ich habe Frauen gesehen, [Pause] die glücklichsten waren die – es waren einzelne darunter –, die wahnsinnig geworden sind. Ich habe kleine Kinder gesehen, Neugeborene; die einzige Sorge, die ihnen zuteil wurde, war die, dass sie sofort die Häftlingsnummer tätowiert bekamen mit einem "Z". Und zwar bekamen die die Häftlingsnummer in den Oberschenkel, weil der Unterarm eines Säuglings zu klein war dafür. Und ich habe dann die Leichenkammer gesehen, die anschließend hinten bei dem Block war, und dort war ein Berg von Leichen, Kinderleichen, und dazwischen waren die Ratten. [Pause]

---

Geburt des Faschismus



(Gemälde von David Alfaro Siqueiros [1896-1974] aus dem Jahr 1936. Pyroxylin auf Masonit, Sala de Arte Publico Siqueiros, Mexiko)

Freitag, 30. Januar 2015

Zeitzeugen sprechen über Auschwitz (2): Schnipsel des alltäglichen Horrors


Der folgende Text ist ein kurzer Auszug aus der Zeugenaussage des Arztes und Holocaust-Überlebenden Otto Wolken, die im Rahmen des sogenannten 1. Frankfurter Auschwitzprozesses am 24. und 27.02.1964 dokumentiert wurde. Die komplette Aussage kann - ebenso wie unzählige weitere Zeugenaussagen - auf den Seiten des Fritz-Bauer-Instituts nachgelesen und auch im Original angehört werden.

---

Vielfach kam es auch vor, dass Häftlinge mit Furunkulose noch später gezüchtigt wurden, wobei die Furunkel durch die Stockhiebe gewaltsam aufgequetscht und der Eiter ins Gewebe hineingepresst wurde. Es kamen fürchterliche Gesäßphlegmonen zustande. Ich habe etliche solcher grauenhafter Fälle gesehen, wo sich das ganze Fleisch vom Gesäß bis auf die Hüftknochen in Eiter auflöste, und die Leute gingen unter den grässlichsten Qualen zugrunde. Denn das waren unrettbare Fälle, denen konnte nicht die größte medizinische Kunst mehr helfen. Es war nur immer ein Glück, wenn das Herz nicht stark genug war und das hohe Fieber der Sepsis ihnen einen raschen und frühen Tod bereitete.

[...]

Ich möchte nun auch hier über Doktor Helmersen eine Episode berichten. [...] Doktor Helmersen war Lagerarzt und einer derjenigen also, die bei uns im Lager die Selektionen vornahmen. Eines Tages, er hatte keine Zeit, er kam auf einen Sprung in die Ambulanz, fragte er: "Was gibt es Neues?" Und er gibt mir dann den Auftrag: "Also, Sie machen mir bis morgen eine Liste der Arbeitsunfähigen." [Pause] Ich war über den Auftrag sehr erschüttert, denn eine Liste der Arbeitsunfähigen machen, das hieß, ich sollte eine Selektion machen. Ich war nicht bereit dazu. Und ich suchte nach einem Weg, wie ich diesen Auftrag irgendwie abbiegen könnte. Nun, in jeder Baracke gab es ganz am äußersten Ende der Baracke eine Buchse. Dort lagen die Häftlinge, deren Auszehrung schon so hochgradig war, dass sie nicht mehr aus eigenen Kräften zur Latrine gehen konnten. Die lagen dort, ließen alles unter sich. Das waren Leute, die noch ein, zwei, vielleicht drei Tage zu leben hätten. Ein Zustand, der irreparabel, irreversibel war. Trotz aller Bemühungen mit den modernsten Mitteln wäre es nicht mehr möglich gewesen, diese Leute am Leben zu erhalten. Ich ging also von Block zu Block und schrieb da in diesen Buchsen die, die dort herumlagen, auf – ich weiß nicht, waren es 26, waren es 28, ich weiß es nicht mehr.

Am nächsten Tag kam Helmersen und verlangte von mir die Liste. Ich zückte ein Papier und gab ihm die Liste. Er sah sich es an. "Das ist alles? Mehr hast Du nicht gefunden?" Ich bekam zwei Faustschläge ins Gesicht. Er ließ Blocksperre machen und führte selber eine Selektion durch. [Pause] Ich kann heute aus der Erinnerung nicht mehr sagen, waren es 200, waren es 300, die er herausholte. Nachher kam er wieder zurück in die Ambulanz. Ich bekam noch einmal zwei Ohrfeigen. "Ich werde Dir helfen, Sabotage [zu] treiben. Du gehst ins SK, ins Strafkommando, dafür werde ich sorgen." Und er ging. Voller Angst wartete ich zwei Tage – nicht nur in Angst, sondern ich hatte mir bitterste Vorwürfe meiner Kameraden anzuhören: "Da hast du es, hättest du ihm wenigstens eine Liste von 50 gegeben. Jetzt sind 300 gegangen, das ist deine Schuld, dass so viele gegangen sind!" Ja, ich habe gesagt: "Ich kann nicht anders. Ich werde nie jemanden zum Tode befördern, ich kann es nicht."

[...]

Ich habe hier früher schon erwähnt – anlässlich der Selektionen –, dass die Ungarntransporte plötzlich eine Umwälzung im ganzen Betrieb mit sich brachten. Denn plötzlich funktionierte das "Reisebüro Eichmann" wieder, und es kamen Tag für Tag vier, fünf, sechs, manchen Tags sogar zehn Züge nach Auschwitz. Auf der Rampe war großer Betrieb. Es wurden Tausende und Abertausende Menschen täglich vergast. Die Krematorien reichten nicht mehr aus, das anfallende Leichenmaterial aufzuarbeiten. Es wurden riesige Gräben gegraben, und zusätzlich zu der Arbeit im Krematorium wurden noch Tausende Leichen in offener Grube verbrannt. Tag und Nacht loderte das Feuer, nachts war der Himmel weithin blutrot gefärbt. Und wenn der Wind schlecht stand, hatten wir im Lager den Gestank des verbrannten Fleisches. [Pause]

Das "Sonderkommando", dieses Kommando aus Häftlingen, das dazu bestellt war, die anfallenden Leichen zu verarbeiten, war zu schwach, es musste verstärkt werden. Es wurden daher vom Lagerarzt Doktor Thilo aus dem Transport Korfu-Athen-14 400 griechische Juden zur Verstärkung des "Sonderkommandos" eingeteilt. Sie weigerten sich, als sie an Ort und Stelle kamen, die Arbeit zu verrichten, und gingen als erste ins Gas. Und es wurden andere an ihre Stelle gesetzt.

Was war denn nun die Arbeit dieser Leute? Die Verwertung der Vergasten geschah so: Den Frauen wurden die Haare abgeschnitten, die wurden gesammelt für irgendwelche industriellen Zwecke. [Pause] Den Leichen wurde durch ein Team von sogenannten Zahnärzten der Goldzahnersatz aus dem Mund geholt und gesammelt – und das wurde sehr genau gemacht. Es gab eigene Formulare, da hieß es: "Aus der Leiche Nummer soundso." Also wenn es sich um einen aus dem Lagerstand handelt, der schon eine Nummer hatte, da wurde ein genaues Protokoll abgefasst, welcher Goldzahnersatz entfernt wurde. Dort im Krematorium – von den anfallenden Transporten, die keine Nummern hatten –, da ging das einfach so: Herausgerissen und in eine Kiste mit einem Schlitz hineingeworfen.

---

Ohne Titel



(Gemälde von Nino Longobardi [*1953] aus dem Jahr 1986. Mischtechnik auf Leinwand, Galerie Bugdahn & Szeimies, Düsseldorf)

Donnerstag, 29. Januar 2015

Song des Tages: The Night




(Saviour Machine: "The Night", aus dem Album "Legend, part I", 1997)

The events about to unfold
Are beyond comprehension.
In this hatred escalating
The fate is the same.

Here we stand defiled to the brink
Of our self-annihilation.
We are vicious animals
In a game with no name.

Behold the place of slaughter,
The earth is a tomb.
The smell of death upon her,
The child has torn the womb.
Let all of us prepare our doom.

Nowhere to run, no place to hide,
We cannot escape the night.

The perilous atomic rage
Shall usher in the age.
The wicked shall be turned to hell,
The wasteland in a cage.
The wasteland in a cage.

Behold the forced abortion,
The murder in the air,
The atmosphere in motion,
The paralyzing fear.
Let all the men of war draw near.

Let All The Men Of War Draw Near.
LET ALL THE MEN OF WAR DRAW NEAR.



Anmerkung: Und so verkündet uns die "christliche" Rockband Saviour Machine aus Kalifornien die frohe Botschaft den Beginn der Apokalypse - mit (laut eigener Aussage) allesamt aus der Bibel stammenden Versen. Ich liebe Bibel-Zitate wie diese. Man könnte hier wilde Textinterpretation starten und ganze Essays damit füllen. Und ich liebe zuweilen - Asche auf mein Haupt - solch pathetisch-nihilistische Musik, die keine Fragezeichen mehr kennt.

Allerdings hat "die Bibel" in diesem Zusammenhang in einem Punkt offenkundig unrecht: Das "Spiel" hat heute selbstverständlich einen Namen, und der lautet schlicht: Kapitalismus. Die Menschheit benötigt keine Götter und erst recht keine Teufel, um sich selbst zum gnadenlosen Ersticken in der bodenlosen Latrine zu versenken und dabei noch laut "Hurra" zu schreien, bis bloß noch immer kleiner werdende Blubberblasen lautlos - fast zärtlich - an der Oberfläche zerplatzen.

Mittwoch, 28. Januar 2015

Night will fall: Ein Blick in die Hölle - und in den Spiegel




Anmerkung: Die unkommentierte und leider leicht gekürzte Rohfassung des dokumentarischen Filmfragmentes von Bernstein und Hitchcock, das in der obigen Doku ausführlich besprochen wird, kann beispielsweise hier angesehen werden: "Memory of the Camps".

Dazu ein ausnahmsweise einmal halbwegs erträglicher Kommentar aus den tagesthemen von Anja Reschke (NDR), den ich hier im Wortlaut dokumentiere, da die Videodatei ohnehin in Kürze wieder "depubliziert" wird:

"Auschwitz, Holocaust - ich kann's nicht mehr hören, es muss doch mal Schluss sein!" - Oh, diese Sätze hört man wieder oft zurzeit. Sie kommen immer dann, wenn das Gedenken wieder in den Vordergrund rückt. Die Mehrheit der Deutschen möchte die Geschichte der Judenverfolgung hinter sich lassen, sagt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung. 58 Prozent wollen sogar einen Schlussstrich ziehen.

Ich habe gestern die Dokumentation über Kameraleute der alliierten Truppen gesehen, die gefilmt haben, als die Konzentrationslager befreit wurden, die kamen, als die Schornsteine der Krematorien noch rauchten, die über Berge von Leichen gestiegen sind; Bilder von Skeletten mit ein bisschen Haut darüber, offene Münder, verdrehte Gliedmaßen. Heute sind diese Kameraleute von damals Männer von über 90 Jahren. Als sie erzählt haben, haben sie angefangen zu weinen. Keiner von ihnen kann einen Schlussstrich ziehen, genauso wenig wie die Opfer, die überlebt haben. Es gibt nicht mehr viele von ihnen, aber noch sind sie da - und ihnen schmettern wir entgegen: "Es muss doch mal Schluss sein"? Ausgerechnet wir?

Es gibt keinen Schlussstrich in der Geschichte - in keiner. Klar, lieber erinnern wir uns an Karl den Großen, Bismarck oder die Wiedervereinigung. Aber Auschwitz ist nun mal passiert. Wieso sollten wir ausgerechnet das Kapitel der Judenverfolgung hinter uns lassen? Dieser Teil unserer Geschichte ist in seiner Abartigkeit so einzigartig, dass er gar nicht vergessen werden kann.

Ich bin "dritte Generation". Ich war nicht dabei, und trotzdem habe ich mich geschämt, als ich wieder diese Bilder gesehen habe. Weil es zu meiner Identität als Deutscher gehört, ob ich will oder nicht.

Nach diesem Film konnte ich nicht schlafen, also habe ich umgeschaltet. Und was sehe ich: Pegida-Demonstranten in Dresden, die sich aufregen über die vielen Ausländer in Deutschland. Ganz ehrlich - da ist mir dann wirklich schlecht geworden.

Auch wenn es Reschke im letzten Abschnitt noch schafft, einen kleinen Verweis auf unsere heutige furchtbare Zeit unterzubringen, verbleibt auch ihr Text im Übrigen im Sumpf der Geschichte und vermeidet es peinlichst, irgendwelche Rückschlüsse oder Querverweise auf die heutige menschenfeindliche, ausgrenzende Politik der neoliberalen Bande zu ziehen, die nicht weniger faschistoid ist als es der aufkeimende Nazi-Terror in seinem frühen Stadium war. "Pegida" ist nicht die Ursache, sondern eines von sehr vielen (durchaus pervertierten) Symptomen dieses radikalisierten Kapitalismus - an dem die Massenmedien, und ganz vorne mit dabei auch die "öffentlich-rechtlichen" Sender mit ihren Propagandaschauen, einen wesentlichen Anteil haben.

Es bleibt nur eine Randnotiz, dass natürlich auch hier wie selbstverständlich auf eine "Studie" der Bertelsmann-Stiftung Bezug genommen wird - so als handele es sich bei diesem kapitalistischen Lobbyverein einer Clique von Superreichen tatsächlich um eine seriöse, gar "unabhängige" Institution.

Der faschistische, menschenfeindliche Terror der Schikanierung, Drangsalierung und Ausgrenzung von Menschen, der damals dem systematischen Massenmord vorausging, war eben nicht einzigartig - wir erleben gerade hautnah, wie er schleichend (und unter tatkräftiger Mitwirkung auch der Bertelsmann-Stiftung) erneut begonnen wurde und zunehmend an Fahrt aufnimmt. Die Erinnerung an die beispiellosen Verbrechen der Nazibande wird aber hohl und sinnfrei, wenn sie zur reinen "Historienschau" verkommt und die offensichtlichen Parallelen zu unserer heutigen Zeit gar nicht erst zur Kenntnis nimmt. Anders gesagt: Wenn Faschismus nicht in einem Atemzug mit Kapitalismus genannt wird, ist es gar nicht mehr möglich, den tatsächlichen Ursachen dieses Irrsinns auf die Spur zu kommen. Die oben verlinkte Doku über den "aus gewissen politischen Gründen" letztendlich nicht fertiggestellten Film zum Holocaust bietet im letzten Drittel dazu einige Denkanstöße, die ich bemerkenswert finde. Ebenso bemerkenswert ist es aber, dass Reschke, die sich in ihrem Kommentar ja explizit auf diese Doku bezieht, jene Denkanstöße entweder nicht bemerkt oder aber bewusst verschwiegen hat.

Der Holocaust ist nicht einfach ein "Teil unserer Geschichte" wie Karl der Große oder Bismarck - er ist das flammende, furchtbare Mahnmal der Zerstörung und Menschenfeindlichkeit, auf das der Kapitalismus zwangsweise stets zusteuert, und zwar überall auf der Welt und zu jeder Zeit.

---


"Bedaure, ich bin im Verein gegen Bettelei!"

(Lithographie von Honoré Daumier [1808-1879] aus dem Jahr 1844, aus der Serie "Les philantropes du jour")

Dienstag, 27. Januar 2015

Zeitzeugen sprechen über Auschwitz (1): Ankunft und Selektion


Der folgende Text ist ein kurzer Auszug aus der Zeugenaussage des Arztes und Holocaust-Überlebenden Dr. Mauritius Berner, die im Rahmen des sogenannten 1. Frankfurter Auschwitzprozesses am 17.08.1964 dokumentiert wurde. Die komplette Aussage kann - ebenso wie unzählige weitere Zeugenaussagen - auf den Seiten des Fritz-Bauer-Instituts nachgelesen und auch im Original angehört werden.

---

Man hatte die [...] Riegel [des Waggons] geöffnet. Wir haben rasch unseren Kindern, unseren Frauen die Mäntelchen noch angezogen. Und mit den Resten unseres Gepäckes – man hat uns doch auch am Wege ein paarmal schon untersucht und immer alles weggenommen, auch das letzte Stück Keks, was wir für die Kinder aufbewahrt haben – sind wir ausgestiegen.

Sofort, wie wir ausgestiegen sind, ist vor unseren Augen ein fürchterliches Bild: An dem Geleise vis-à-vis stand ein verlassener Zug. Und vor dem Zug, vor den Waggonen, Hunderte und Tausende von Reisegepäcken, aufeinandergestapelt. Ich wusste nicht, wo wir sind. Ich dachte, es ist vielleicht ein ausbombardiertes Stationshaus oder so etwas.

Aber wir hatten keine Zeit nachzudenken. Sofort sind an uns in gestreiften, zebraähnlichen Anzügen Leute [...] herangetreten und haben uns aufgefordert, das Gepäck neben den Waggonen abzulegen. Wir sträubten uns noch dagegen. Es war noch unser letztes Hab und Gut, eigentlich nur mehr ein paar Medikamente und unsere Dokumente in den Reisekoffern, in dem Gepäck. Aber wir wollten es noch nicht [hergeben]. Da riss man uns das aus der Hand, besser gesagt ist ein deutscher Soldat an uns herangetreten und hat auch gesagt: "Das Gepäck muss hier abgegeben werden." Daraufhin haben wir das dort abgegeben, neben den Waggonen aufgestellt.

Und der Strom der Menschen ging vorwärts, und ich sagte [zu] meiner Frau – ich war mit Frau und drei Kindern, drei Töchterchen: "Tut nichts. Hauptsache, dass wir fünf zusammen sind." Und: "Wir werden schon sehen, wie wir weiterkommen." Kaum sagte ich das, tritt schon ein anderer Soldat zwischen uns und sagt: "Männer nach rechts, Frauen nach links!" und hat uns voneinander [getrennt]. Ich habe nicht einmal so viel Zeit gehabt, meine Frau zu umarmen. Sie hat mir nachgeschrien: "Komm, küsse uns!" Vielleicht aus irgendeinem Fraueninstinkt hat sie eher gefühlt, was für eine Gefahr uns droht.

Ich bin durch den Kordon wieder zu ihnen gelaufen, habe meine Frau geküsst und meine drei Kinder. Und schon wieder hat man mich auf die andere Seite geschoben, und wir sind weiter vorangegangen – parallel zwar, aber getrennt. Zwischen den zwei Gleisen, zwischen den zwei Zügen, parallel, aber getrennt. Dann, [...] die Menge hat mich auch weitergestoßen, habe ich sie [aus den] Augen verloren, meine Familie.

[...]

Inzwischen ist Mengele von uns weggegangen, und wir sahen, dass, so wie er steht – unweit von uns, 20, 30 Meter entfernt –, die Menge ihm gegenüber strömt und er mit seiner Hand nach rechts und nach links deutet. Und so gehen einige Menschen nach rechts und einige nach links, Frauen und Kinder zusammen nach links.

Auf einmal sehe ich meine Frau und meine drei Kinder schon von Mengele weiter entfernt gehen. Und es fällt mir ein: Ich werde dem Doktor Capesius eine Bitte vorlegen. Ich bin zu ihm herangetreten, und ich sage ihm: "Herr Hauptmann", ich habe die Distinktionen nicht gekannt, "ich habe zwei Zwillingskinder, die bedürfen einer größeren Schonung. Ich arbeite, was Sie wünschen, nur gestatten Sie mir, mit meiner Familie zusammenzubleiben." Ich wusste ja nicht, warum wir dort waren, wohin sie zu gehen hatten. Fragt er mich: "Zwillingskinder?" "Ja." "Wo sind sie?" Ich zeige: "Dort gehen Sie." "Rufen Sie sie zurück", sagte er mir, worauf ich meine Frau und meine Kinder, die Namen, laut rufe. Und sie kehren um, und ich zeige ihnen, sie sollen zurückkommen.

Sie kommen zurück, und sogar Doktor Capesius nahm die an der Hand, die zwei Kinder, und führt uns bis zum Doktor Mengele. Und an seinem Rücken stehengeblieben sagt er mir: "Na, sagen Sie [es] ihm." Und ich sagte wieder: "Herr Kapitän", ich wusste nicht seine Distinktion, "ich habe zwei Zwillingskinder", wollte weiter sprechen, aber er sagte mir: "Später, jetzt habe ich keine Zeit." Und mit einer abwehrenden Handbewegung hat er mich weggeschickt.

Doktor Capesius sagte: "Also dann müssen Sie zurückgehen in Ihre Reihe. Gehen Sie zurück!" Und meine Frau und meine drei Kinder sind wieder an diesem Weg weitergegangen. Ich begann zu schluchzen, und er sagte mir auf Ungarisch: "Ne sírjon. Weinen Sie nicht. Die gehen nur baden. In einer Stunde werden Sie sich wiedersehen." Da schrie ich noch meiner Frau und meinen Kindern ungarisch nach und bin wieder zu meiner Gruppe zurückgegangen. Nie habe ich sie mehr gesehen.

In dieser Sekunde war ich dem Doktor Capesius sogar in der Seele dankbar. Ich dachte, er wollte mir etwas Gutes tun. [Erst] später habe ich erfahren, was das bedeutet hat, Zwillingskinder dem Doktor Mengele in die Hand zu geben zu seinen Experimenten.

[...]

Ich bin zu meiner Gruppe, zu den Ärzten und Apothekern, zurückgegangen. Wir waren noch ein paar Minuten dort gestanden. Dann hat man uns auch in Fünferreihen aufgestellt, und so einer im gestreiften Anzug – jetzt weiß ich schon, dass das alte Häftlinge waren, damals wusste ich [es] nicht – und ein deutscher Soldat haben uns weitergeführt in eine große Scheune. Dort mussten wir uns nackt ausziehen. Nur die Schuhe durften wir behalten. Dann, auf einem freien Platz, haben uns Friseure empfangen, haben uns die Haare geschnitten und ganz enthaart.

Und dann hat man uns weitergeführt in das Bad, Sauna dort genannt. Dort hat man uns noch einmal ganz rasiert, so dass kein Haar an unseren Körpern blieb. Und durch ein desinfizierendes Mittel [haben wir] barfuß hinübergehen und den Kopf damit auch abwaschen müssen. Und in einem Ankleideraum haben wir dann die gestreiften Anzüge bekommen, einen Rock, ein paar Hosen und ein Hemd. Unterhosen haben wir nicht bekommen.

Und dann hat man uns hinausgeführt ins Freie. Und dort haben wir gewartet – das war in der Früh – bis circa Nachmittag, also wir haben schon kein Zeitempfinden [mehr] gehabt. Lange, lange Zeit haben wir dort gewartet. Wir sind schon fast zusammengebrochen. Und dann ist ein Mann mit der Aufschrift "Block", ich weiß nicht, 20 oder 21, gekommen und hat uns weitergeführt und in einen Block hineingelassen, wo wir dann angeblich Kaffee zum Trinken zu bekommen hätten.

Es war ein [fürchterlicher] Tumult, wie man uns dort hineingelassen hat. Man hat uns inzwischen schon geschlagen. Und weil jeder sich eilte, diesen Kaffee zu bekommen, weil wir doch viereinhalb Tage, den fünften Tag schon, keinen Tropfen Wasser im Mund hatten. Und dann hat man auch wirklich irgendein Fass gebracht, einen schwarzen Kaffee, was man dort verteilt hat. Aber es war ein fürchterlicher Tumult. Die Menschen haben sich gegenseitig geschlagen sogar. Und da haben wir das Leben eines Häftlings begonnen.

---

Lager



(Gemälde von Sigmar Polke [1941-2010] aus dem Jahr 1982. Dispersion und gestreute Pigmente auf Dekostoff und Wolldecke, Privatbesitz [sic!])

---

Siehe auch: Die Kinder von Izieu - hier der funktionierende Direktlink zum Video. In der Regel benötigt das Video in beiden Links eine Weile, bis es geladen ist und startet - Geduld ist nötig.

Montag, 26. Januar 2015

Des Kuhjournalisten Blowjob: "Wie immer ohne Gummi, Herr Gauck?"


Bei n-tv durfte ich vorgestern das bedingungslose Bekenntnis des "wertekonservativen" (Wikipedia) "Qualitätsjournalisten" Wolfram Weimer zu seinem bedauernswerten Dasein als Callboy des neoliberalen Kaspermarionettenregimes lesen. Unter der hochinvestigativen Überschrift "Joachim Gauck: Der beste Präsident seit Weizsäcker" konnte ich dort ein Glanzstück des kapitalistisch-propagandistischen Hurentums verfolgen, das meines Wissens in dieser Form und bezogen auf diesen erbärmlichen Greis ohne Beispiel ist. Wer sich das selber durchlesen möchte, soll das tun, muss sich aber auch warm anziehen, denn der Grad des beschworenen Pathos' ist mindestens ebenso grotesk wie die arschkriechende Jubelhymne auf den Freiheitspapst des Kapitals selbst.

Beim ersten Lesen bin ich noch der fixen Idee aufgesessen, dass es sich hier möglicherweise um einen satirischen Beitrag handeln könnte, denn der geschätzte Herr Weimers (nicht zu verwechseln mit Mutter Beimer, die ist nämlich schon verstorben) hat laut Wikipedia 2012 schon einmal entsprechenden Schalk gezeigt und das Sonderheft einer mir unbekannten Satirezeitschrift herausgegeben. Doch diesen schönen, erleichternden Gedanken musste ich im weiteren Verlauf des Textes schnell wieder aufgeben: Ein Mensch wie unser Callboy Weimers schreibt nichts Satirisches über die "zweite deutsche Diktatur" und die "Leiden des jungen (und alten) Gauck" in den furchtbaren Gulags der noch furchtbareren Kommunisten - völlig unabhängig davon, was der alte Gauck als Offizier der faschistischen Kriegsmarine auch angerichtet haben mag. Davon erfährt der geneigte Leser des Hurenaktes ohnehin nichts. Es gibt strikte Tabus, selbst für Callboys.

Nun hat der feynsinnige Kollege flatter sich ja kürzlich darüber ausgelassen, dass es nach seiner Meinung sinnlos sei, sich über einzelne - und seien es auch ganz besonders widerwärtige - Gestalten aus diesem Rotlichtmilieu zu echauffieren. Er nennt diese Käuflichen schlicht "Trolle" und meint, Ignoranz sei der sinnvollste Weg, damit umzugehen. Ich sehe das indes anders - denn jene "Trolle" bewirken ja weitaus mehr als die Idioten, die wir aus unserer kleinen Blogger-Bubble kennen und die oftmals noch nicht einmal Huren, sondern tatsächlich schlicht merkbefreite, lernresistente und nachplappernde Dummköpfe sind, die man in der Tat nicht ernst zu nehmen braucht. Bezahlte und gezielt lancierte Propaganda in Massenmedien besitzt allerdings eine völlig andere Quanti- und vor allem Qualität, die furchtbare Folgen haben kann und die man unter gar keinen Umständen einfach ignorieren oder totschweigen darf.

Man muss diesen Pamphleten mit Informationen begegnen - auch wenn ich mir durchaus bewusst bin, dass ein kleines oder auch größeres Blog im Internet eigentlich nicht der richtige Ort für diese Form der Opposition ist. Allein: Heute fehlen die Alternativen! Angesichts einer längst eingenordeten kapitalistischen Presselandschaft gibt es heute keine oppositionellen Massenmedien mit einer auch nur halbwegs relevanten Reichweite mehr - in dieser finsteren Zeit bleibt uns nichts anderes als das Internet. Und es ist wohl auch eher einem dummen Zufall bzw. Versehen zu verdanken, dass es dieses heute noch halbwegs "freie" Internet gibt - die verkommene Bande arbeitet bekanntlich eifrig daran, auch dieses letzte Instrument der unbedeutenden Gegenwehr endlich wieder unschädlich zu machen. Anonymität war gestern - heute wissen sie bereits, wer da schreibt, und morgen verbieten bzw. zensieren sie es und verfolgen die UrheberInnen.

Solange wir es noch (ungestraft) können, sollten wir die schäbigen Huren des Kapitals also benennen und mit dem Finger auf sie zeigen - immer und immer wieder, denn die Propagandafront wird gewiss auch in Zukunft nicht müde, ihre schleimigen Auswürfe unentwegt und ohne Pause weiter in die verseuchte Welt zu schleudern. Der Nutzen dieser kläglichen Gegenwehr ist marginal, die Aussicht auf Erfolg nicht vorhanden - aber Schweigen und Ignoranz wären nun die schlechtesten aller denkbaren Alternativen, selbst angesichts schlafender, dumpfer oder irregeleiteter BürgerInnen der stupiden NSDAP- Pegida-Fraktion.

---

Die Blutsauger


"Alles geht vorzüglich. Sogar die Parteiunterschiede verschwinden mehr und mehr."

(Zeichnung von Thomas Theodor Heine [1867-1948], in "Simplicissimus", Heft 49 vom 02.03.1925)