Samstag, 16. Mai 2015

"Deutschland geht es gut": Ein Realitätsabgleich


Unsere geliebte Bundesregierung - die momentan, was manch einer gerne vergisst bzw. verdrängt, von CDU und SPD in trauter neoliberaler Eintracht gestellt wird - wird nicht müde, den dummgehaltenen, willenlos dahinvegetierenden Untertanen immer wieder in ewiger Wiederholung den propagandistischen, infantilen Sermon vorzutragen, dass "es Deutschland gut" gehe. Da ist es zwischendurch recht hilfreich, ebenfalls immer wieder ein wenig genauer hinzuschauen. Der WDR hat aktuell ein schönes Beispiel dafür im Programm, wie oberflächliche, systemkonforme Symptomberichterstattung bei gleichzeitiger rigoroser Ausklammerung der Ursachenforschung und konsequenter Auslagerung der Schuldfrage (und damit auch der Lösung) aussieht:

Zuwanderer, Flüchtlinge, aber auch immer mehr Deutsche: 10.000 Menschen in Duisburg haben keine Krankenversicherung. Darunter viele Kinder. (...) / Die Probleme im Gesundheitssystem sind bei der Stadt bekannt. Der Leiter des Gesundheitsamtes, Dr. Dieter Weber, will nichts beschönigen. Er hat sich auch schon selbst bei Pater Oliver [sic!] ein Bild gemacht. Und auch er findet die Zustände in Duisburg skandalös und denkt über eine Clearing-Stelle [sic!!] nach, die in solchen Fällen helfen kann. Aber das alleine werde nicht reichen: Ein europäischer Hilfsfonds [sic!!!] müsste her, sagt er, damit die Probleme gelöst werden.

Ihr müsst Euch den Quatsch beim WDR nicht durchlesen - das kleine Zitat dürfte ausreichen, um den Informationswert dieses lächerlichen Textes beurteilen zu können. Allein der "BLÖD"-Titel "Gesundheitsskandal" illustriert das Niveau schon vortrefflich.

Die Probleme sind der Stadt / dem Land / dem Bund selbstverständlich bekannt (wie sollte es auch anders sein!), die Ursachen aber werden konsequent verschwiegen - in der Politik ebenso wie in den Systemmedien. Der Staat, der ja laut Grundgesetz ein Sozialstaat sein sollte, versagt auch hier auf ganzer Linie - und das nicht etwa zufällig, sondern von langer Hand geplant und gewollt. Das wird beim WDR natürlich nicht thematisiert - dafür muss wieder einmal ein "privates Hilfsprojekt" herhalten, das die ureigentlichen Aufgaben des Sozialstaates inzwischen übernimmt. Auch diesmal ist es ausgerechnet wieder ein kirchliches Projekt - dabei dürfte sich heuer doch hoffentlich sogar bis in die von der Realität offenbar abgeschotteten WDR-Büros herumgesprochen haben, dass die christlichen Kirchen sowie deren "Projekte" in Deutschland längst nicht nur aus Kirchensteuern - also durch die Beiträge der Kirchenmitglieder - finanziert werden, sondern eben großteils auch aus dem - *Trommelwirbel* - Staatshaushalt. Wir sehen glitzernde Nebelkerzen, wohin wir auch schauen.

Dahinter steckt die perfide, jetzt hoffentlich hinlänglich bekannte neoliberale Strategie: "Private" oder kirchliche Leistungen sind nicht einklagbar, sondern können erbracht, genauso aber auch willkürlich von jetzt auf gleich entzogen werden, ohne dass ein Betroffener dagegen irgendeine Handhabe besäße. Die perversen "Tafeln" waren hier wohl die Blaupause für weitere geplante Aushöhlungen des Sozialstaates.

Den Vogel schießen der WDR, unser selbstloser "Pater Oliver" und der geschätzte Herr Dr. Weber vom "Gesundheitsamt" aber ab, indem sie in (laut WDR) friedlicher Dreifaltigkeit angesichts dieses "Skandals" - *erneuter Trommelwirbel* - nach einem "europäischen Hilfsfonds" brüllen: In einem der reichsten Länder der Welt, dessen schon arg neoliberal gestutztes und keineswegs zur Nachahmung empfohlenes Mehr-Klassen-Gesundheitssystem trotzdem noch immer von hunderten von Krankenkassen, deren Konten nach wie vor überquellen und absurde Profite sowohl für die "Managerebene" dieser Kassen, als auch für die Eigner sowie die Pharma- und "Gesundheits"-Industrie bereithält, bevölkert wird, ist das der nicht mehr zu überbietende Gipfel der Perversion. Hier ruft kein Ertrinkender, kein Insasse eines Rettungsbootes, noch nicht einmal der Kapitän eines herbeieilenden Schiffes um Hilfe, sondern ein stumpfer Bürokrat in seinem sicheren Furzsessel fernab jeden Meeres.

Wir brauchen in dieser Hinsicht keine kirchlichen, staatlich bezahlten "Pater" und auch keinen "europäischen Hilfsfonds" oder sonstige vergleichbare Albernheiten - wir brauchen eine einzige, für alle Menschen in diesem Land zuständige Krankenkasse, die ihnen kompetent und zuverlässig hilft, wenn Hilfe notwendig ist. Alles andere ist kapitalistischer Irrsinn, der nicht den Menschen, sondern einzig den profitgierigen Vollidioten der sogenannten Elite nützt.

Also - und das überrascht hoffentlich niemanden - wird von unserer geliebten Bundesregierung selbstredend "alles andere" getan - dafür haben sie sich schließlich bezahlen lassen. Zuwanderer, Flüchtlinge oder arme Deutsche und deren Wohlergehen interessieren diese Bande nicht. Rechnen wir kurz hoch: Wenn es allein in Duisburg, einer Ruhrgebietsstadt mit knapp 500.000 "regulären" EinwohnerInnen, mindestens 10.000 Menschen ohne Krankenversicherung gibt - wieviele mögen es wohl bundesweit sein? Na, wer kann rechnen, ohne dass ihm übel wird?

Ich schaffe das nicht, ohne grüne Galle speien zu müssen.

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Entfettung


"Hier haben Sie eine Mark - und nun verraten Sie mir aber auch, wie Sie es angefangen haben, so schlank zu werden!"

(Zeichnung von Thomas Theodor Heine [1867-1948], in "Simplicissimus", Heft 21 vom 24.08.1925)

Donnerstag, 14. Mai 2015

Song des Tages: Und wir tanzten




(ASP: "Und wir tanzten (Ungeschickte Liebesbriefe)", aus dem Album "Hast du mich vermisst? (Der schwarze Schmetterling I)", 2000)

Und wir tanzten im Schnee vergangenes Jahr.
Der Mond funkelte sanft in deinem Haar.
Und es tut auch kaum mehr weh,
wenn ich alles vor mir seh,
als ob's letzte Nacht gewesen, sternenklar.

Deine Haut und Stolz bleibt mir schon lang nicht mehr.
Ich gäbe alles für ein Zaubermittel her.
Eins, das dich mich lieben macht
Länger als nur eine Nacht,
Doch meine Arme und die Nächte bleiben leer.

Nur dieses eine Mal noch schenk mir Kraft für einen neuen Tag.
Ich stehe nackt und hilflos vor dem Morgen, nie war ich so stark.
Nur einen Tag noch Kraft und ich reiß alle Mauern um mich ein:
Nur wer sich öffnet für den Schmerz lässt auch die Liebe mit hinein.

Und wir tanzten im Schnee vergangenes Jahr.
Der Mond funkelte sanft in deinem Haar.
Und es tut auch kaum mehr weh,
Wenn ich alles vor mir seh,
Als ob's gestern war und nicht vergangenes Jahr.

Will ich es greifen, ist es schon nicht mehr da.
Niemand war mir jemals ferner und so nah.
Nicht mal Stille sagt, wie tief -
Wie ein ungeschickter Brief -
Was zerbrach, als ich in deine Augen sah.

Auch dieser Brief bleibt ungeschickt von mir.
Das schönste Lied schrieb ich nicht auf Papier.
Ich schrieb es in dein Gesicht,
mit den Fingern - siehst du nicht,
was mein Mund dir hinterließ?
Schau auf deine Haut und lies,
Such, wo meine Zunge war,
Such mein Lied in deinem Haar!
Willst du mein Gefühl verstehn,
Musst du dich in dir ansehn -
Schließ die Augen und du siehst: Ich bin in dir.

Ich breite meine Arme aus, empfange dich, komm an mein Herz,
Ich heile dich, lass einfach los und gib mir deinen ganzen Schmerz.
Renn einfach weg, lauf vor mir fort, lebe dein Leben ohne mich -
Wo immer du auch hingehst, wartet meine Liebe schon auf dich.

Und wir tanzten im Schnee vergangenes Jahr.
Der Mond funkelte sanft in deinem Haar.
Und es tut auch kaum mehr weh,
Wenn ich alles vor mir seh,
Als ob's gestern war und nicht vergangenes Jahr.

Und wir tanzten im Schnee vergangenes Jahr.
Der Mond schien so sanft in deinem Haar.
Wenn du mich nicht siehst, bin ich
Einfach nicht mehr wesentlich -
Löse mich auf wie Schnee vom vergangenen Jahr.


Mittwoch, 13. Mai 2015

Zitat des Tages: Bei der Verbrennung meiner Bücher, oder: Der Charakter der Deutschen


Mein erstes Buch, der Gedichtband "Herz auf Taille", erschien Ende 1927. Und im Jahre 1933 [am 10. Mai] wurden meine Bücher in Berlin, auf dem großen Platz neben der Staatsoper, von einem gewissen Herrn Goebbels mit düster feierlichem Pomp verbrannt. Vierundzwanzig deutsche Schriftsteller, die symbolisch für immer ausgetilgt werden sollten, rief er triumphierend bei Namen. Ich war der einzige der vierundzwanzig, der persönlich erschienen war, um dieser theatralischen Frechheit beizuwohnen.

Ich stand vor der Universität, eingekeilt zwischen Studenten in SA-Uniform, den Blüten der Nation, sah unsere Bücher in die zuckenden Flammen fliegen und hörte die schmalzigen Tiraden des kleinen abgefeimten Lügners. Begräbniswetter hing über der Stadt. Der Kopf einer zerschlagenen Büste Magnus Hirschfelds stak auf einer langen Stange, die, hoch über der stummen Menschenmenge, hin und her schwankte. Es war widerlich.

Plötzlich rief eine schrille Frauenstimme: "Dort steht ja Kästner!" Eine junge Kabarettistin, die sich mit einem Kollegen durch die Menge zwängte, hatte mich stehen sehen und ihrer Verblüffung übertrieben laut Ausdruck verliehen. Mir wurde unbehaglich zumute. Doch es geschah nichts. (Obwohl in diesen Tagen gerade sehr viel zu "geschehen" pflegte.) Die Bücher flogen weiter ins Feuer. Die Tiraden des kleinen abgefeimten Lügners ertönten weiterhin. Und die Gesichter der braunen Studentengarde blickten, den Sturmriemen unterm Kinn, unverändert geradeaus, hinüber zu dem Flammenstoß und zu dem psalmodierenden, gestikulierenden Teufelchen.

In dem folgenden Jahrdutzend sah ich Bücher von mir nur die wenigen Male, die ich im Ausland war. In Kopenhagen, in Zürich, in London. – Es ist ein merkwürdiges Gefühl, ein verbotener Schriftsteller zu sein und seine Bücher nie mehr in den Regalen und Schaufenstern der Buchläden zu sehen. In keiner Stadt des Vaterlands. Nicht einmal in der Heimatstadt. Nicht einmal zu Weihnachten, wenn die Deutschen durch die verschneiten Straßen eilen, um Geschenke zu besorgen. Zwölf Weihnachten lang! Man ist ein lebender Leichnam.

Es hat zwölf lange Jahre gedauert, bis das Dritte Reich am Ende war. Zwölf kurze Jahre haben genügt, Deutschland zugrunde zu richten. Und man war kein Prophet, wenn man, in satirischen Strophen, diese und ähnliche Ereignisse voraussagte. Dass keine Irrtümer vorkommen konnten, lag am Gegenstand: am Charakter der Deutschen. Den Gegenstand seiner Kritik muss der Satiriker natürlich kennen. Ich kenne ihn.

(Erich Kästner [1899-1974], in: "Kästner für Erwachsene", vier Bände, Atrium 1966; ursprünglich aus dem Vorwort zu seinem ersten nach 1933 auch wieder in Deutschland erschienenen Gedichtband "Bei Durchsicht meiner Bücher", Atrium 1946)




(Dokumentation: "Der Tag, an dem die Bücher brannten" von Henning Burk, 2003 - Leider fehlen die letzten Minuten in dieser Version.)

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Denkmal zur Erinnerung an die Bücherverbrennung


(Das Denkmal befindet sich am Berliner Bebelplatz (Opernplatz), stellt einen unterirdischen Raum mit leeren Bücherregalen dar und wurde geschaffen von Micha Ullman, 1994/95.)

Montag, 11. Mai 2015

Esoterik und Faschismus: Alte Männer verklären die Geschichte


Die inzwischen offenbar senilen Eso-Jünger Konstantin Wecker und Holdger Platta haben anlässlich des historischen Befreiungstages am 8. Mai einen Text ins Internet gestellt, während in China gerade ein Sack Reis umfiel. Hier könnte dieser Blogeintrag enden - allerdings enthält jener Text eine Passage, die man sich genüsslich auf der Zunge zergehen lassen sollte, bevor man sich wild die Haare rauft und den beiden dementen Greisen die Pest an den Hals oder eine kompetente Betreuung durch einen Pflegedienst wünscht:

Es ist von ungeheuer großer Bedeutung, dass dieses Nazi-Regime nicht von einer Bevölkerungsmehrheit an die Macht gewählt worden ist, sondern an die Macht intrigiert wurde, und zwar von sogenannten "Eliten" des ostelbischen Adels, der Schwerindustrie an Rhein und Ruhr, und von dienstwilligen Finanzleuten und ultrakonservativen Politikern um den Reichspräsidenten Hindenburg herum.

Peng. Das sitzt. Wie kommen die beiden Clowns wohl auf die Idee, dass ein wiederholter Wahlsieg der Faschisten nicht auf den erklärten Willen einer Bevölkerungsmehrheit zurückzuführen sei? Eine "einfache" Mehrheit ist in wecker-plattaschem Sinne offenbar gar keine "echte" Mehrheit - da muss schon eine "absolute" Mehrheit als Bezug herhalten. Wie grotesk eine solche Sichtweise ist, muss ich hoffentlich niemandem erklären.

Selbstverständlich ist es wichtig zu betonen, dass eine Figur wie Hitler nur möglich war, weil interessierte, "elitäre" Kreise in Faschismus und Krieg die "bessere" Alternative sahen, ihre Pfründe weiterhin zu sichern und zu mehren - weshalb dieser Fakt aber von den beiden Hampelmännern mit der haltlosen Behauptung verknüpft wird, die NSDAP sei nicht von einer Bevölkerungsmehrheit gewählt worden, erschließt sich wohl nur einem strammen, bornierten Geschichtsrevisionisten. Diese haarsträubende Behauptung der Herren Wecker und Platta ist genauso hanebüchen und falsch wie die allseits beliebte Formulierung von der "Machtergreifung".

Kritik an dieser Erklärung ist bei den sektiererischen Brüdern natürlich nicht erwünscht: Platta begibt sich in seiner Replik auf den einzigen veröffentlichten (sic!) kritischen Kommentar gar direkt auf die Ebene der persönlichen Diffamierung und rät dem Kommentator zynisch, doch besser "nach drüben zu gehen", wenn es ihm hier nicht gefalle. Das passt ins eindimensionale Kinderbild dieser kruden Gestalten - ebenso wie die offenbar wissentlich und bewusst benutzte Missinterpretation des jahrhundertealten Topos' des "Narrenschiffes".

Hitler ist nicht "vom Himmel gefallen" wie eine göttliche Seuche, er wurde aber auch nicht von einer "Elite" aus dem Hut gezaubert und der verdutzten Bevölkerung alternativlos vor die Nase gesetzt. Die faschistische Ideologie, die Hitler damals repräsentierte, war in der gesamten Bevölkerung längst weit verbreitet - und damals wie heute war das ein Ergebnis der zuvor erfolgten Propaganda durch die Medien. Auch in diesem Punkt irren die beiden Verwirrten also, denn heute ist die Situation in gewisser Hinsicht durchaus vergleichbar mit damals: Die rechtsradikale Propaganda ist schon lange wieder in den Medien und damit auch in vielen Köpfen sowie natürlich in der Politik angekommen.

Auch der heutigen Bevölkerung - und das betrifft gewiss nicht nur Deutschland - ist es zuzutrauen, wieder einmal den eigenen Schlächter mit Begeisterung mehrheitlich zu wählen und dies nicht einmal dann zu bemerken, wenn das Blutmeer schon bis zur Hüfte reicht. Dazu benötigt man heute nicht einmal einen "neuen Hitler" - den Job erledigen CDU, SPD, FDP und Grüne auch ganz ohne GröFaZ vorzüglich.

Wenn es noch eines Beleges bedurfte, dass die schmierige Eso-Clique um den platten Wecker, den verschlafenen Platta und den verfaulten Fuß nicht nur redundantes, sondern auch gefährliches Zeug absondert, ist er hiermit erbracht.

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Wotan


"Das würde alles ganz anders blühen, wenn wir keine Juden in Deutschland hätten."

(Zeichnung von Wilhelm Schulz [1865-1952], in "Simplicissimus", Heft 9 vom 30.05.1927)

Musik des Tages: Sinfonie Nr. 5 in cis-moll




  1. Trauermarsch. In gemessenem Schritt. Streng. Wie ein Kondukt
  2. Stürmisch bewegt. Mit größter Vehemenz
  3. Scherzo. Kräftig, nicht zu schnell
  4. Adagietto. Sehr langsam
  5. Rondo-Finale. Allegro - Allegro giocoso

(Gustav Mahler [1860-1911]: "Sinfonie Nr. 5 in cis-moll" aus den Jahren 1901 bis 1904. World Orchestra for Peace, Leitung: Waleri Gergijew, 2010)

Anmerkung: Gustav Mahler war sich bewusst, dass er mit dieser Komposition im Begriff war, die bis dahin seit Jahrhunderten gültigen Begrenzungen des tonalen Raumes endgültig zu verlassen - eine Entwicklung, die ihn in massive Selbstzweifel und Ängste gestürzt hat, wie sie sich beispielsweise in einem Brief an seine Frau Alma wiederfinden, den er nach der Generalprobe zur Uraufführung in Köln 1904 schrieb:

Es ist alles passabel gegangen. Aber das Publikum - o Himmel - was soll es zu diesem Chaos, zu diesen Urweltsklängen, zu diesem sausenden, brüllenden, tosenden Meer für ein Gesicht machen? Was hat eine Schafherde zu einem "Brudersphären-Weltgesang" anderes zu sagen, als blöken!? O, könnt' ich meine Symphonien fünfzig Jahre nach meinem Tode uraufführen! Jetzt gehe ich an den Rhein, - der einzige Kölner, der nach der Premiere ruhig weiter seinen Weg nehmen wird, ohne mich für ein Monstrum zu erklären!

Dieser Einschätzung des Komponisten, die seinerzeit zunächst erwartbar der furchtbaren, biederen deutschen Realität entsprach, will ich 110 Jahre später nur eine einzige Empfehlung hinzufügen: Man lösche die Lichter, drehe die Musikanlage bis zum gerade noch vertretbaren Anschlag auf und tauche ein in diese fantastische - damals geradezu anarchistische - Klangwelt. Es versteht sich von selbst, dass die barbarische Nazi-Bande Mahlers Musik - nicht allein wegen der jüdischen Herkunft des Komponisten - ab 1933 als "undeutsch" klassifizierte und sie verbot.

Ich habe - ebenso wie Mahler - lange geglaubt bzw. gehofft, dass eine Spezies, die imstande ist, solch grandiose Werke hervorzubringen, auch irgendwann den Weg in eine gute Zukunft finden wird. Heute habe ich diese Hoffnung längst verloren. Die blökende Schafherde ist auch 110 Jahre und viele unsägliche Katastrophen später noch genauso dämlich wie sie es seinerzeit gewesen ist - und dasselbe trifft auf die Verkommenheit, kriminelle Energie und pure Lernresistenz der damals wie heute bis zum an Schwachsinn grenzenden Egoismus degenerierten Finanz- und Macht-"Eliten" dieses gruseligen Planeten zu.

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Der Volkswirt



"Über eine Milliarde Mark wird täglich fürs Essen hinausgeworfen. Wie nützlich könnte man dieses Geld verwenden!"

(Lithografie von Paul Schondorff [1880-?], in "Simplicissimus", Heft 3 vom 20.04.1925)