Freitag, 7. August 2015

Song des Tages: One Summer's Day




(Joe Hisaishi [*1950]: "One Summer's Day", aus dem Soundtrack zu dem Film "Spirited Away", 2002; Klavier: Joe Hisaishi, Gesang: Ayaka Hirahara)

Anmerkung: Ich verlinke dieses feine, kleine Musikstück aus dem fernen Japan nicht nur aus offensichtlichen Gründen. Der Film, aus dem es stammt, ist nämlich mein persönlicher Lieblingsfilm aus dem Bereich des Anime-Genres. Er wurde geschaffen von Hayao Miyazaki, dessen Werke ich fast alle heiß und innig liebe, und trägt in Deutschland den wenig fantasievollen, dem grandiosen Werk nicht angemessenen Titel "Chihiros Reise ins Zauberland".

Ich möchte an dieser Stelle keine Filmkritik verfassen. Dennoch ist es mir ein Bedürfnis zu betonen, dass "Spirited Away" aus meiner Sicht ein vollkommenes Meisterwerk ist, das ich auch nach dem dreißigsten Anschauen immer noch ebenso verehrungswürdig finde. Es handelt sich tatsächlich noch um einen handgezeichneten Film und nicht um computergenerierte Animationen; die Bildsprache ist dennoch gewaltig und die Geschichte kann man mit der Formulierung, sie sei ein "Jahrhundertfeuerwerk der explodierenden Fantasie", nur unzureichend beschreiben. Wer das Stück noch nicht gesehen hat, sollte das tunlichst nachholen. Das Werk ist kein "Kinderfilm", auch wenn es meines Wissens in Deutschland die Einstufung "FSK 12" erhalten hat - ich jedenfalls würde es einem zwölfjährigen Kind gewiss nicht zumuten, zumal die vielen tieferen Aussagen und Verweise, die an allen Ecken und Enden zu finden sind, von den meisten Kindern ohnehin noch nicht verstanden werden können. Exemplarisch sei dazu auf die deutsche Synchronisation hingewiesen: Der Part der "bösen Hexe" Yubaba (die hier nichts mit den üblichen, meist reaktionär-konservativen Disney- oder Märchen-Klischees gemein hat) wird von Nina Hagen gesprochen - und zwar in einem derartig gruselig-rauen Bass [!], der selbst einem alten Haudegen wie mir tief unter die Haut geht.

Ich erinnere mich noch gut an mein "erstes Mal" - es passiert mir verdammt selten, dass mich die Geschichte und vor allem die Atmosphäre eines Films noch tagelang verfolgt und berührt. Die Sozial- und Gesellschaftskritik, die dieser Film fast beiläufig transportiert, wirkt nachhaltig.

Donnerstag, 6. August 2015

Zitat des Tages: Hiroshima


Der den Tod auf Hiroshima warf
Ging ins Kloster, läutete dort die Glocken.
Der den Tod auf Hiroshima warf
Sprang vom Stuhl in die Schlinge, erwürgte sich.
Der den Tod auf Hiroshima warf
Fiel in Wahnsinn, wehrte Gespenster ab,
Hunderttausend, die ihn angehen nächtlich
Auferstanden aus Staub für ihn.

Nichts von alledem ist wahr.
Erst vor kurzem sah ich ihn
Im Garten seines Hauses vor der Stadt.
Die Hecken waren noch jung und die Rosenbüsche zierlich.
Das wächst nicht so schnell, dass sich einer verbergen könnte
Im Wald des Vergessens. Gut zu sehen war
Das nackte Vorstadthaus, die junge Frau
Die neben ihm stand im Blumenkleid
Das kleine Mädchen an ihrer Hand
Der Knabe der auf seinem Rücken saß
Und über seinem Kopf die Peitsche schwang.
Sehr gut erkennbar war er selbst
Vierbeinig auf dem Grasplatz, das Gesicht
Verzerrt vor Lachen, weil der Photograph
Hinter der Hecke stand, das Auge der Welt.

(Marie Luise Kaschnitz [1901-1974], in: "Gesammelte Werke, Bd. 5: Gedichte", Suhrkamp 1985; geschrieben und erstveröffentlicht 1951)

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Anmerkung: Heute vor 70 Jahren - am 6. August 1945 - wurde auf Geheiß des damaligen Präsidenten der USA, Harry Truman, die erste Atombombe, die kriegerischen Zwecken diente, über der japanischen Stadt Hiroshima gezündet. Drei Tage später folgte die zweite, noch verheerendere Bombe, welche die Stadt Nagasaki in Schutt und Asche legte. Dieses beispiellose Kriegsverbrechen kostete mehreren hunderttausend Menschen - größtenteils natürlich Zivilisten - das Leben. Neben den unmittelbar Getöteten starben ebenso viele an den Folgen der Verbrennungen und radioaktiven Verstrahlung. Bei n-tv gibt es eine Fotoreihe, die einen kleinen, aber keineswegs umfassenden Einblick in das Ausmaß der Zerstörungen bietet.

Paul Tibbets war der Name des Piloten, der im Cockpit des Flugzeuges saß, das die erste Bombe nach Hiroshima transportierte. Er hat seine Tat - zumindest öffentlich - bis zu seinem Tode 2007 nie bereut. Dasselbe gilt freilich für die Verantwortlichen der damaligen US-Regierung.

Heute sind unsere amerikanischen Freunde längst wieder bereit. Kürzlich las ich einen Bericht über das "Center for Strategic and International Studies" (CSIS), in dem es unter anderem heißt:

Der CSIS-Bericht argumentiert, hochentwickelte taktische Atomwaffen würden es Washington ermöglichen, kleinere Atomkriege anzudrohen und zu führen, ohne sich von der Gefahr eines nuklearen Holocausts abschrecken zu lassen.

Und diese Kriminellen meinen das ernst.


(Stadtzentrum von Hiroshima, August 1945)

Mittwoch, 5. August 2015

Rassismus: Die Dämme brechen


Die hiesige Propagandapresse übertrifft sich momentan gegenseitig mit immer alarmistischeren "Katastrophenmeldungen", in denen von einer "Flüchtlingsflut" und ähnlich hirnlosen Begriffen die Rede ist. Ich mag nicht entscheiden, ob diese geist- und faktenfreie Propaganda nun Ursache oder Symptom der zu beobachtenden, stetig anschwellenden Rassismuswelle ist, die heuer einmal mehr in ihrer ganzen Hässlichkeit und schnöden Dummheit über Deutschland schwappt - festzuhalten aber ist, dass sie offenkundig wirkt.

Selbst ehemals "gemäßigte" Menschenfeinde oder gar solche, die sich einst des Gegenteiles rühmten, ergreifen heute eifrig das Wort, plappern den strunzdämlichen Blödsinn von der "Überfremdung" oder gar vom "Asylmissbrauch" nach und sehen im braunen Mob oftmals nur noch "besorgte Bürger". Das betrifft die Medienlandschaft ebenso wie (natürlich) die Politiksimulation - und diese Entwicklung macht auch vor der Bloggerszene nicht halt.

Es gibt eine ganze Reihe von Beispielen für diesen unheilvollen Trend, weshalb ich hier ein aus meiner Sicht besonders widerliches Beispiel herausgreifen möchte: Gestern las ich einen Text des "Alpha-Bloggers", der sich "Don Alphonso" nennt, mit dem schönen Titel "Wie das geht". Dort ist die oben genannte fatale Entwicklung nahezu in "arischer Reinkultur" nachzulesen. Der kleine Alphons schreibt beispielsweise:

Aber jetzt gibt es eine Krise durch eine Wanderungsbewegung und wer das nicht glaubt, kann sich gerne mal anschauen, wie die Rechtsextremen in Europa Zulauf bekommen, selbst wenn die Migration vor allem Deutschland als Ziel hat.

Das muss man sacken lassen und ggf. mehrmals lesen: Es gibt laut Alphons also eine "Wanderungsbewegung", deren Ursachen ihn offensichtlich nicht interessieren, die aber dafür eine "Krise" zur Folge habe. Welche Krise meint er damit wohl? Die Krise der Menschenrechte wird es wohl nicht sein - wahrscheinlich meint er also auch den unkontrollierten "Flüchtlingsstrom" von einigen hundertausend Menschen, der in einem Land mit 80 Millionen Einwohnern unweigerlich zum Kollaps führen müsse. Und selbstverständlich sei nach Alphonsens Stammtischmeinung "vor allem Deutschland" das Ziel, da hierzulande ja geradezu paradiesische Zustände - gerade für Arme - herrschen.

Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, um so viel geballte Dummheit und Unwissenheit angemessen zu kritisieren. Nach seiner Darstellung sind nun wieder einmal die Flüchtlinge selbst daran schuld, dass die rechtsextreme Brut in Deutschland und im übrigen Europa kontinuierlich an Zulauf gewinnt. Dass allein eine solche hanebüchene Pseudoargumentation bereits zutiefst rassistisch ist, fällt dem guten Mann nicht einmal auf. Die Opfer werden wie gewohnt zu Tätern stilisiert, während die wirklichen Ursachen (und Täter!) nicht einmal in einem Nebensatz Erwähnung finden. Dieses perverse Prinzip kennen wir aus der deutschen Geschichte nur allzu gut - und es lässt sich überall wiederfinden, wo konservative Unlogik das Sagen hat.

Auch vor stumpfsinnigen, stereotypen Verunglimpfungen von Flüchtlingen schreckt der kleine Alphons nicht zurück:

Und nein, die Mütter empfinden es vorne am nächsten Gymnasium nicht als Bereicherung, wenn beim Schulschluss Gruppen von jungen Migranten gegenüber stehen, gaffen und anzügliche Bemerkungen machen.

Das reicht locker für den örtlichen NPD- oder CSU-Stammtisch - und für unseren Alphons ist diese stramme, nationalpatriotische Aussage ein nachvollziehbarer Grund dafür, dass die "Stimmung kippen kann". - Mir fällt dazu, abgesehen vom riesigen Kotzeimer, nichts Sinnvolles ein. Vielleicht sind ja auch die Hakennasen schuld daran, dass die "Stimmung kippen kann" - oder das minderwertige Erbgut solcher Untermenschen, lieber Alphons? - Es ist wahrlich zutiefst erschütternd, in welchen braunen Jauchegruben der Autor hier wie selbstverständlich fischt, ohne den grauenvollen Gestank zu bemerken.

Die Begründung für derlei rassistischen Gedankenmüll liefert der Alphons gleich nach, denn er stellt schlicht fest:

Ich will, dass es mir gut geht.

Diese nicht näher erläuterte Aussage ist unmissverständlich, und sie beinhaltet unter anderem den ungesagten Zusatz: "Egal auf wessen Kosten und zu welchem Preis". So ist er, der hässliche, egoistische, vom kapitalistischen System vollkommen deformierte Eigennutzmehrer, der selbst dann, wenn es ihm vergleichsweise gut geht (Alphons meint gar, es gehe ihm "sehr sehr gut"), allzu gerne bereit ist, rassistische Plattitüden zu vertreten, um bloß keinen auch noch so kleinen Krümel an andere Menschen, denen es alles andere als "sehr sehr gut" geht, abgeben zu müssen. - Noch viel widerlicher können sich kapitalistisch verkrüppelte Menschen in diesem Terrorsystem kaum verhalten.

Der kleine Alphons ist kein Einzelfall - Deutschland bleibt sich treu.

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(Titelblatt der rassistischen Nazi-Hetzschrift "Der Stürmer" vom Juli 1934)

Dienstag, 4. August 2015

Musik des Tages: Istanbul Symphony




  1. Nostalgie
  2. Der Orden
  3. Sultan-Ahmed-Moschee
  4. Hübsch gekleidete junge Mädchen auf dem Schiff zu den Princess-Inseln
  5. Über die Reisenden auf dem Weg vom Bahnhof Haydarpaşa nach Anatolien
  6. Orientalische Nacht
  7. Finale

(Fazıl Say [*1970]: Sinfonie Nr. 1: "Istanbul Symphony", Op. 28 aus den Jahren 2009/10; Frankfurt Radio Symphony Orchestra, Leitung: Howard Griffiths, 2012)

Anmerkung: In diesem faszinierenden sinfonischen Werk versucht der türkische Komponist Fazıl Say die grundverschiedenen musikalischen Wurzeln des Orients und Okzidents miteinander zu verbinden. So ist eine Sinfonie entstanden, die ein eindrucksvoller Beleg dafür ist, wie sehr sich verschiedene Kulturen gegenseitig befruchten und damit über den jeweiligen Tellerrand hinaus erweitern können.

Say gibt zu Beginn des Konzertes eine kleine Einführung in das Werk, so dass ich dazu hier nichts weiter schreiben muss. Bemerkenswert finde ich noch das kleine Detail, dass der Komponist, der nach eigenem Bekunden Atheist ist, dem Thema "Religion" gleich zwei Teile seines Werkes gewidmet hat; bezeichnender Weise sind dies einerseits der religiöse Fanatismus (die "negative" Seite der Religion) und andererseits - man lese, staune und lächle - die "schöne Architektur" der Istanbuler Sultan-Ahmed-Moschee, die dem Komponisten als dringlichstes Beispiel für die "positiven" Wirkungen von Religion eingefallen ist. Diese Art des subtilen Humors mag ich doch sehr.

Montag, 3. August 2015

Zitat des Tages: Heute noch


Heute kann ich dich ruhig
Schlafen gehen lassen,
Während ich mit einigen Männern
Noch eine Weile in der Straße
Den Mond betrachte.
Langsam wird er sich
Vor unseren Augen verändern,
Da der Zyklus sich nähert.

Wenn es mir gelänge,
Die Hunde zu überhören,
Die sich in der Ferne
Um die ersten Toten zanken!
Ihr Gebell hat schon das heisere Metall,
Das auch in unseren Stimmen sein wird,
Morgen,
Wenn die verbrannten Gesichter
Aus den Fenstern hängen
Und die blauen Silben des Wassers
Zu roten Buchstaben zerfallen.

(Karl Krolow [1915-1999], in: "Gesammelte Gedichte, Bd. 1", Suhrkamp 1965; geschrieben und vermutlich erstveröffentlicht 1956)

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Anmerkung: Über den Dichter Krolow habe ich vor neun Monaten bereits einige Zeilen geschrieben, die ich hier zur Vermeidung von Wiederholungen einfach verlinke. - Dieses Gedicht jedenfalls beschreibt nach meiner Wahrnehmung sehr eindringlich das Lebensgefühl einer nicht so lang vergangenen Zeit der vehementen Warnungen, über die wir heute aber schon längst weit hinaus sind: Wie immer sind alle Warnungen ungehört und wirkungslos verhallt und der stetig wiederkehrende, zyklische Wahnsinn der kapitalistischen Habgier hat den Bereich des Erahnten/Befürchteten längst verlassen und ist erneut in die Todeszone des schauderhaften Faktischen eingetreten.

In einem der vielen, vielen Nachrufe zum Tode Krolows im Jahr 1999 hieß es beispielsweise im Freitag: "Mit Krolow ist ein Dichter jener großen deutschen Literatur gestorben, der zweifellos zum gesicherten Bestand dieses Jahrhunderts zählen wird. Und wie jetzt eine mit Tinte beschriebene Serviette am leeren Platz seines Esstisches liegt, so auch bleiben die Bücher." - Wir erleben heute allerdings - in allzu trister Wiederholung - das Gegenteil und dürfen einmal mehr der Farce beiwohnen, dass für den kapitalistischen "Zeitgeist" bzw. deren UrheberInnen auch heute wieder läppische 16 Jahre ausreichen, um aus einem "gesicherten Bestand" eine vollkommen vergessene, redundante Randnotiz der jungen Geschichte zu machen, die fast niemand mehr kennt.

Nichts in dieser verkommenen Welt des billigen Scheins ist so "effizient" wie das kapitalistisch motivierte bzw. bewusst forcierte Vergessen.