Samstag, 17. Oktober 2015

Zitat des Tages: Über das Altern


"So löse ich mich auf und komme mir abhanden."
(Michel de Montaigne)

Niemand will wissen, was ihm im Alter bevorsteht. Wir sehen es zwar aus nächster Nähe täglich, aber um uns selbst zu schonen, machen wir aus dem Altern ein Tabu: der Gezeichnete selber soll verschweigen, wie widerlich das Alter ist. Dieses Tabu, nur scheinbar im Interesse der Alternden, verhindert sein Eingeständnis vor sich selbst und verzögert den Freitod so lange, bis die Kraft auch dazu fehlt.

Das Gebot, das Alter zu ehren, stammt aus Epochen, als hohes Alter eine Ausnahme darstellte (...). Wird heute ein alter Mensch gepriesen, so immer durch Attest, dass er verhältnismäßig noch jung sei, geradezu noch jugendlich. Unser Respekt beruht immer auf einem NOCH ("noch unermüdlich", "noch heute eine Erscheinung", "durchaus noch beweglich in seinem Geist", "noch immer imstande" usw.). Unser Respekt gilt in Wahrheit nie dem Alter, sondern ausdrücklich dem Gegenteil: dass jemand trotz seiner Jahre noch nicht senil sei. (...)

Weil Altern in unsrer Gesellschaft ein Tabu ist, daher als innere Erfahrung kaum zur Sprache kommt, hingegen mit allen körperlichen Indizien öffentlich in Erscheinung tritt, neigen wir dazu, in erster Linie die körperlichen Indizien zu fürchten - die bekannten Alterserscheinungen: Ausfall der Zähne, Glatze, Säcke unter den Augen, Runzeln, Gebrechen usw., eben was der Umwelt sichtbar wird trotz Tabu. Lassen diese sich durch Medizin oder Kosmetik beheben, so erliegt der Gezeichnete gern der Täuschung, dass Jugend zu verlängern sei. (...)

Eine Zeitlang ist Selbsttäuschung möglich. Merken die andern nach und nach den Zerfall einer Person, so zeigen sie es der Person meistens nicht, im Gegenteil: sie ermuntern zur Selbsttäuschung auf alle Arten (Reden zum Geburtstag, Wahl zum Ehrenpräsidenten usw.), teils aus Mitleid, teils weil der Umgang mit einem Gezeichneten bequemer ist, solange er seine Vergreisung zu verhehlen genötigt ist. Kommt er eines Tages nicht mehr um das Geständnis herum, dass er ein alter Mann werde - was er schon seit Jahren ist -, so wird er entdecken, dass sein Geständnis niemanden überrascht; es berührt nur peinlich.

(Max Frisch [1911-1991], in: "Tagebuch 1966-71", Suhrkamp 1972)


Freitag, 16. Oktober 2015

Herbstwind


Ein literarischer Einwurf

Endlich saß er. Er hatte lange gebraucht, um den langen Weg von seiner Wohnung in einem Außenbezirk der Stadt, in den es ihn aufgrund der kargen Rente verschlagen hatte, bis zu diesem Tempel des körperlichen Wohlbefindens zurückzulegen, und er war stolz darauf, diesen Marathon ohne fremde Hilfe bewältigt zu haben.

Während er es sich auf der Liege in der Wellness-Oase bequem machte, dachte er über seinen bevorstehenden 78. Geburtstag nach und überflog im Geiste noch einmal die Liste seiner Lieben, die er für diesen Tag in seine unansehnliche Zwei-Raum-Wohnung eingeladen hatte. Viele waren nicht mehr übrig - der Tod hatte seine Auswahl längst getroffen und machte keine Anstalten, damit wieder aufzuhören. Vier waren es noch, die ihm geblieben waren - und zum Glück waren seine beiden besten Freunde darunter, die zwar beide ihre Ehepartner jüngst verloren hatten und ihm in Gesprächen danach sehr verwirrt und deprimiert vorgekommen waren, aber dennoch zugesagt hatten.

Er kannte das nur zu gut. Als seine Frau gestorben war, damals vor zehn Jahren, war auch er in ein dunkles Loch gefallen, aus dem er nur mit allergrößter Mühe und der Hilfe von Freunden wieder herausgefunden hatte. Bei diesem Gedanken huschte ihm ein dunkles Lächeln über das Gesicht, denn unwillkürlich erinnerte er sich an die lange zurückliegende Zeit, als er Julia kennengelernt hatte. Er war damals ein regelrechter Frauenheld gewesen und hatte wild und ausschweifend gelebt - erst Julia hatte es vermocht, diesem zwar aufregenden, aber oberflächlichen Leben ein Ende zu setzen und etwas ganz Neues zu beginnen. Die tiefe Liebe, die ihn mit dieser Frau verbunden hatte, prägte ihn bis heute - auch noch zehn Jahre nach ihrem Tod.

Inzwischen hatte er aber zurückgefunden ins Leben und genoss seinen Ruhestand, soweit es ihm die zunehmenden körperlichen und materiellen Einschränkungen erlaubten. Er war abgestürzt, gewiss - vom einstigen Wohlstand, dem eigenen Häuschen und dem einst großen Freundeskreis war nicht viel geblieben - aber er hatte sich in seiner stetig kleiner werdenden Welt arrangiert. An seinem Geburtstag wollte er seine Freunde - wie er es früher so oft getan hatte - mit kulinarischen, selbst zubereiteten Köstlichkeiten überraschen. Schon seit vielen Monaten sparte er fleißig für dieses Ziel.

So kreisten seine Gedanken, während er sich wohlig auf der Liege in der Oase räkelte, und noch machte er sich keine Gedanken um den beschwerlichen Rückweg zu seiner Wohnung, der in einigen Stunden vor ihm lag. Stattdessen fischte er in der Tasche neben der Liege mühsam nach dem Laptop, das ihm seine Tochter, die so weit entfernt wohnte, vor einem Jahr geschenkt hatte und mit dem er inzwischen richtig gut zurecht kam - und las entsetzt den Text "Geisterbahn olé" von einem Autor namens Kiezneurotiker.

Erschrocken und beschämt sah er sich um - und erhob sich mühsam, aber möglichst schnell, um seinen vom Alter gezeichneten Körper den ästhetischen Adlerblicken seiner streng starrenden, jüngeren Mitmenschen zu entziehen. Als er Stunden später endlich zuhause angekommen war, zitterte er am ganzen Körper und schob es auf den kalten, wie mit Messern schneidenden Herbstwind, dass seine Augen beim Einschlafen unablässig tränten.

Donnerstag, 15. Oktober 2015

Momentaufnahme - und eine Leseempfehlung


Heute gibt's nur eine Leseempfehlung - verbunden mit der Bitte, sich an einer Diskussion beim Kollegen vom Dudentity-Blog zu beteiligen.

Mein Hirn ist angesichts der jüngsten Texte von Wellbrock und (um Längen schlimmer) Faulfuß derzeit leider nur eine breiige, faulig riechende Masse, die nach Killerspielen, Schnitzel und absonderlichem Sex schreit.


(Selfie von Charlie nach dem Lesen des Faulfuß-Textes am 14.10. im Jahre 2015 des Grundgütigen)

Mittwoch, 14. Oktober 2015

Song des Tages: Hollow Head




(Blaze Bayley: "Hollow Head", aus dem Album "Blood & Belief", 2004)

If that phone call is for me
Please tell them that I don't exist
I don't think I'll be missed
That call could signal danger
That I might still be alive
I thought that I had died
Do you think the doctor lied?

The doctor said it's not my fault
I've been told I'm not to blame
There is just an empty space
Where there should be a brain
I'm an interesting case
Just like one that he once saw
About a man who doesn't know
He is really just a thought

The doctor said I've got a hollow head ... hollow head

The doctor said I should go home
And try to find my own safe place
That's not something I can face
Where all my feelings are my own
And everything is just ok
That's not for me
I'm really ill you see

The world is spinning round too fast
The sky is pushing down too hard
Everybody's feeling scared
That they won't get the part
The extraordinary thing
Is that we are all the same
When we think we're all alone
We all feel so ashamed

The doctor said I've got a hollow head ... hollow head



Anmerkung: Allein für dieses herrliche Video und den wunderbar sarkastischen Text gehören dem Mann die Füße geküsst. Kann man einen Großteil unserer lieben Mitmenschen noch auf eine bessere Art karikieren? ;-)

Montag, 12. Oktober 2015

Von der Sinnlosigkeit einer gemeinschaftlichen "linken" Gegenwehr


Der Kommentator Fluchtwagenfahrer hat mich zu einer kleinen Stellungnahme inspiriert. Diese spiegelt selbstredend meine persönliche Meinung wider und ist daher nicht "belehrend" zu verstehen (dies nur als warnender Hinweis für besonders dumme BesucherInnen).

Ich sehe derzeit keine erfolgversprechende Möglichkeit für eine breite, mediale Gegenoffensive gegen den kapitalistisch-faschistischen Wahnsinn, so bitter und fatal das auch klingen (und vor allem sein) mag. Dazu muss man sich ja nur einmal anschauen, was heutzutage so alles unter den Begriffen "links", "oppositionell" oder gar "antikapitalistisch" firmiert:

Fangen wir gleich mit der SPD und den Grünen an, die alle beide in Regierungsverantwortung waren bzw. sind und den brutalen Zerstörungsprozess in dieser Funktion massiv beflügelt haben und dies auch weiterhin tun. Diese Gruppierungen muss man getrost abhaken, denn aus dieser Richtung ist erkennbar keine Gegenwehr zu erwarten. Damit fallen gleich reihenweise weitere "kritische" Stimmen - wie beispielsweise die Nachdenkseiten oder andere SPD-treue Blogs wie Ad sinistram oder der Spiegelfechter - weg, da auch dort wie von Sinnen am reformistischen Absurdum festgehalten wird, das mantraartig und beleglos besagt, der Kapitalismus könne "gebändigt" werden und so doch noch zu paradiesischen Zuständen für alle Menschen auf diesem Planeten führen. Wie absurd das ist, muss ich wohl nicht näher erläutern - zumal ein nicht propagandistisch eingefärbter Blick in die Geschichtsbücher bereits ausreicht, um Klarheit zu erlangen.

Von der Linkspartei will ich in diesem Zusammenhang lieber gar nicht erst reden - wer die wenigen Beispiele verfolgt hat, in denen diese Partei auf Länderebene in Regierungsverantwortung war oder ist, weiß ein bitteres Klagelied zu singen, das dem Grabgesang der SPD und Grünen zum Verwechseln ähnelt.

Dann sind da noch all die alten und neuen Rechten, die auch gerne ins vermeintlich kritische Horn stoßen, wie beispielsweise Elsässer, Jebsen, Ulfkotte & Co., dabei aber im hässlichen Antiamerikanismus und Antisemitismus stecken bleiben und sich zum Thema Kapitalismus allenfalls noch zu einer Kritik des Geld- und Zinssystems (für das selbstverständlich Amerikaner und Juden verantwortlich seien) durchringen können. Von den oftmals unsäglichen nationalistischen Anwandlungen dieser Personen und Gruppierungen, die sich trotz alledem oftmals "modern" oder gar "weltoffen" geben, schweige ich lieber. Diese lächerliche "Kritik" ist vergleichbar mit dem Mediziner, der zur Behandlung der Masern einen Schminkstift verordnet, mit dem die roten Punkte auf der Haut übermalt werden sollen. Auch mit solchen hirnfreien Leuten ist selbstverständlich keine nachhaltige Gegenwehr möglich.

Ebenfalls erwähnenswert sind die - wie immer in kapitalistischen Untergangszeiten - an Zulauf gewinnenden Esoteriker, die das Heil eher im "Inneren" suchen und wahlweise das einzelne Individuum oder irgendeine bescheuerte "Gottheit" (oder gar beides) als vermeintlichen Ausweg bemühen. Hauptvertreter dieser hanebüchenen Sparte sind die Weckers, Faulfüße und Plattas vom Eso-Blog "Jenseits der Realität". Zudem werden von VertreterInnen dieser sektiererischen Seite heute oftmals weitere absurde Zugeständnisse als Bedingung eingefordert (beispielsweise Veganismus, Gender-Irrsinn oder unkritische Toleranz gegenüber Voodoo-Zaubereien), um überhaupt in den erlauchten Kreis der "anerkannten WiderständlerInnen" aufgenommen zu werden.

Diese Liste ist endlos und daher natürlich unvollständig, während die Zahl der Interessierten an wirklich nachhaltigen Veränderungen zum Wohle aller Menschen leider sehr, sehr klein ist. Die allermeisten dieser angeblichen Oppositionellen verfolgen lediglich einen egoistischen Kurs, der ihnen und ihrer jeweiligen Klientel höchstselbst Positives verspricht - und das auch gerne auf Kosten anderer.

Dies ist übrigens ebenfalls eine Wiederholung - auch zur Weimarer Zeit gab es reichlich Gegenwehr gegen den aufkommenden braunen Terror (und dazu sogar noch politische Alternativen, die es heute nicht mehr gibt). Wie heute gab es aber auch damals nur eine viel zu kleine Anzahl von Menschen, die all den Rattenfängern, die am Rande der Szenerie lauerten, nicht auf den Leim gegangen sind. Heute sieht's indes noch weitaus düsterer aus als damals. Es gab seit 1945 eine Vielzahl von schlauen Menschen, die in penetranter Kontinuität nicht müde geworden sind, immer und immer wieder vor einer weiteren Wiederholung der immer gleichen kapitalistisch-faschistischen Entwicklung zu warnen - und heute müssen wir ernüchtert feststellen, dass all diese Bemühungen schlicht vergebens waren.

Der "kleinste gemeinsame Nenner" wäre dabei so einfach zu formulieren - und genau an diesem Punkt zeigt sich deutlich, weshalb es keine Gemeinsamkeiten zwischen all diesen Gruppierungen geben kann:

  1. Enteignung aller Superreichen (eine Vermögensobergrenze ist am Anfang durchaus diskutabel)
  2. Tatsächliche Gleichstellung aller Menschen unabhängig von Religion, Ethnie etc.
  3. Verhinderung von erneuter Machtkonzentration durch geeignete Maßnahmen wie Rotation, Räte etc.

Und nun versuchen wir dies mal den oben genannten kruden Gesellen oder auch nur dem freundlichen Nachbarn klarzumachen - ich höre schon jetzt die üblichen, gehirnlosen Aufschreie: "Die wollen mir mein tolles Auto/Haus/Handy ... wegnehmen!" oder "Jetzt soll der Neger also neben mir wohnen!" oder "Ich habe jahrelang malocht - wieso sollte jemand, der kein Geld verdient hat, jetzt dasselbe haben wie ich?" oder "Wenn jemand Tiere isst, ist er weniger wert als ich!" ... und so weiter und so fort. - Es ist sinnlos. Diese Menschheit will nicht gut leben - sie will im neoliberalen Konkurrenzkampf blutig vegetieren - auf dass der Einzelne seinen Nachbarn übertreffe und sich dadurch besser fühle: "Mein Haus, mein Auto, meine Jacht", während eine "elitäre" superreiche Minigruppe über dem bizarren Szenario thront und sich das absurde Treiben wohlwollend - weil systemerhaltend - anschaut.

Amöben haben ein weitaus entspannteres und vermutlich sinnvolleres Leben.

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Entfettung


"Hier haben Sie eine Mark - und nun verraten Sie mir aber auch, wie Sie es angefangen haben, so schlank zu werden!"

(Zeichnung von Thomas Theodor Heine [1867-1948], in "Simplicissimus", Heft 21 vom 24.08.1925)

Zitat des Tages: Die Hochöfen des Schmerzes


In den Hochöfen des Schmerzes
Welches Erz wird da geschmolzen
Die Eiterknechte
Die Fieberschwestern
Wissen es nicht

Tagschicht
Nachtschicht allen Fleisches
Blühn die Wunden und die Feuer
Wild in den Salpetergärten
Und den heißen Rosenäckern

Asphodelen meiner Angst
An den Abhängen der Nacht

Ach was braut der Herr der Erze
In den Herzen? Den Schrei
Den Menschenschrei aus dunklem Leib
Der wie ein geweihter Dolch
Unsere Totensonne schlitzt

(Yvan Goll [1891-1950], in: "Traumkraut. Gedichte aus dem Nachlass", Limes 1951; geschrieben vermutlich 1944)