Freitag, 15. September 2017

Realitätsflucht (38): Lost Horizon 2


Die heutige Flucht entführt uns ins Jahr 1956, wo wir ganz im Stile von "Indiana Jones" über den halben Globus reisen, um einem alten Artefakt, das die Geschicke der gesamten Menschheit beeinflussen kann, nachzujagen: Es geht um das Adventure-Spiel "Lost Horizon 2" des deutschen Entwicklerstudios Animation Arts aus dem Jahr 2015.



Es handelt sich um ein mehr oder weniger klassisches "Point & Click"-Spiel in einer dreidimensionalen Umgebung, das inhaltlich unmittelbar an den ersten Teil anknüpft – allerdings ist es nicht notwendig, diesen Vorgänger zu kennen, um das Spiel genießen zu können. Gleich vorweg sei angemerkt, dass das Spiel "unfertig" auf den "Markt" gebracht wurde – was, wie gewohnt, sicher rein kapitalistische Ursachen hatte. So ist aus einem Spiel, welches das Potenzial zu einem Highlight birgt, nur ein durchschnittliches, eben unfertiges Werk geworden.

Dabei beginnt die Geschichte gleich mit einem donnernden, dunklen Prolog: Der Spieler übernimmt den Charakter eines jüdischen Wissenschaftlers, der irgendwo in Deutschland im Jahre 1942 seine beiden Kinder vor den ins Haus einbrechenden SS-Schergen beschützen muss. Dieses bedrückende Szenario endet – man ahnt es – natürlich nicht gut. Danach startet die eigentliche Geschichte, in der man den Briten Fenton Paddock auf seiner Suche nach dem besagten Artefakt, die ihn von Europa über Asien und Afrika bis in die Einöde des isländischen Nordens führt, begleitet. Es ist nicht bloß eine Randnotiz, dass er sich dabei auch gleich auf die Suche nach seiner vom KGB entführten Tochter Gwen begibt und von einer ominösen Agentin des israelischen Geheimdienstes Mossad unterstützt wird. Viel mehr möchte ich zur teils hanebüchenen, stets aber spannenden und abwechslungsreichen Geschichte nicht spoilern.

Wie im Adventure-Genre üblich, nehmen auch in "Lost Horizon 2" die Rätsel einen breiten Raum ein. Diese fallen höchst unterschiedlich aus: Es gibt lächerliche Varianten, die selbst eine Hohlbirne aus der AfD mit etwas Glück oder Hilfe lösen könnte; gleichzeitig wird man aber auch mit einigen recht knackigen Aufgabenstellungen konfrontiert, die zudem nicht immer logisch sind – was die Lösungen natürlich nicht einfacher macht. Auch das ist allerdings ein bekanntes Merkmal dieses Spielegenres. Die Entwickler haben dem eventuell aufkommenden Frust aber vorgebeugt, indem sie eine stichwortartige Komplettlösung ins Spiel integriert haben, die man jederzeit per Mausklick aufrufen kann, wenn man an irgendeiner Stelle partout nicht mehr weiterkommt.



Grafisch ist das Spiel auf der Höhe der Zeit – die Schauplätze sind detailreich und atmosphärisch gestaltet: Wenn sich Fenton in einer herrschaftlichen Villa, einer Tempelruine, einer orientalischen Stadt oder im Lenin-Mausoleum in Moskau herumtreibt, sind die Umgebungen stets passend und angemessen. Einzig die Videosequenzen, die es zuhauf im Spiel gibt, geben Anlass zur Kritik, denn sie sehen teilweise so aus als stammten sie aus dem Jahr 2005. Auch einige eigentlich vielversprechende Features des Spieles, wie beispielsweise den im Inventar integrierten "Basteltisch" oder die beispielsweise aus "Amnesia" bekannte direkte Interaktionsmöglichkeit, mit der gedrückten Maustaste Türen oder Behältnisse zu öffnen, sind offenbar dem Zeitdruck zum Opfer gefallen und tauchen entsprechend nur sporadisch am Anfang des Spiels auf.

Auf meinem Win7/64-System läuft das Spiel problemlos und ohne Abstürze. Die vielen Dialoge sind professionell und angemessen vertont, die orchestrale Musik ist passend und unaufdringlich. Leider ist das Abenteuer viel zu kurz – nach nur 12 Stunden lief schon der Abspann. Der Vorgänger war doppelt so lang. Und das größte Ärgernis kommt tatsächlich zum Schluss: Die animierte Schlussszene des Spieles ist dermaßen dilettantisch umgesetzt worden, dass hier die Vermutung naheliegt, die Entwickler könnten das Video in der Nacht vor der Veröffentlichung noch schnell zusammengeschustert haben. Ein derartig zerstörtes Ende einer Geschichte habe ich zuvor noch nicht erlebt.

"Lost Horizon 2" hätte ein richtig gutes Spiel werden können – herausgekommen ist aber ein nur mäßig zu empfehlendes Durchschnittsspiel, das zwar Spaß macht, gleichzeitig aber auch verdeutlicht, dass die bescheuerte Gier nach Profit auch in kreativer Hinsicht stets zerstörerisch ist. Vermutlich sehen die Entwickler das ebenso – es ist sicher kein Zufall, dass dieses Spiel auf deren Internetseite gar nicht erwähnt wird und auch in der Liste der Spiele nicht auftaucht.


Donnerstag, 14. September 2017

12.000 Euro: Und der Eso, der hat Zähne ...


Meine liebsten Esoterikerfreunde von "Jenseits der Realität" werden nicht müde, um Geld zu betteln. Sie tun es mit Inbrunst und hören damit auch nicht wieder auf: Schon vor einem halben Jahr habe ich mich mit diesem unschönen Thema beschäftigt – und seitdem ist die Eso-Seite gleich geblieben.

Aktuell kopiert der Oberesoteriker Faulfuß mal wieder Textbausteine, die er schon mehrere Male zu diesem Zweck verwendet hat – es ist sicher zu aufwändig oder zu schwierig, einfach mal neue Formulierungen für die wiederkehrende Bettelei zu finden. Effizienz ist eben auch in Esoterikstan das oberste Gebot – auf dass die Kohle der blökenden Schafherde sprudele.

Eigentlich könnte ich meinen oben verlinkten Beitrag ebenfalls einfach kopieren und danach schlafen gehen – schließlich hat sich in den vergangenen sechs Monaten nichts verändert. Ich schreibe aber trotzdem lieber einen neuen Text, da ich andere Ansprüche an ein politisches Blog stelle als die Esoteriker. Dabei ist es äußerst amüsant, dass der Oberguru sein realitätsfernes Blog weiterhin und ohne jede Ironie als "Magazin" bezeichnet. Wäre er ein Soldat, könnte ich das noch verstehen – schließlich muss das Magazin immer gut gefüllt sein, wenn die Gesinnungsfreunde in die Schlacht ziehen, um die vielen "Feinde", zu denen unter vielen anderen auch ich gehöre, auszumerzen.

Doch in Faulfußens Text geht es ja in erster Linie um Geld, worum auch sonst. Er möchte nicht 50, nicht 100, nicht 500 und auch keine 1.000 Euro haben – ihm schwebt eine Summe von 12.000 Euro vor dem irren Auge, die er gerne jährlich einsacken möchte. Wofür dieses Geld verwendet werden soll, bleibt natürlich im nebulösen Wabern verborgen – es ändert sich ja nichts daran, dass das Betreiben jenes Blogs schlichtweg gar kein (!) Geld kostet. Trotzdem fabuliert der Mann: Wenn nach Abzug aller ominösen "Kosten" noch etwas übrigbliebe, solle vielleicht auch irgendwann mal ein "Honorar" für AutorInnen gezahlt werden – wobei sich da sofort die Frage stellt, welche AutorInnen damit wohl gemeint sein sollen, da in diesem Katastrophenblog ja fast ausnahmslos Beiträge veröffentlicht bzw. verlinkt werden, die anderswo bereits zuvor erschienen sind.

Das soll 12.000 Euro pro Jahr "im Normalbetrieb" (*glucks*) kosten, meint der Faulfuß – und erntet schallendes Gelächter. Vielleicht sollte ich endlich damit beginnen, mir solche kapitalistischen Ziele auch zu setzen. Mich kostet das Bloggen zwar ebenfalls keinen läppischen Cent, wenn ich die DSL-Gebühren, die ich aber ohnehin hätte, mal ausklammere – aber 12.000 Euro im Jahr könnte auch ich wahrlich gut gebrauchen! Es ist ein wahrer Jammer, dass ich kein Eso-Spinner, sondern bloß ein doofer Kommunist bin.

Ich prostituiere mich aber herzlich gerne und kopiere die Faulfuß'sche Behauptung zur Legitimation dieser habgierigen Aktion deshalb frank und frei:

Mystik, undogmatische Spiritualität, die das Innerste im Menschen berührt, macht die Verbundenheit allen Lebens erfahrbar. Sie erinnert an nicht-materielle Werte und hilft dem Einzelnen, sich durch Selbst-Besinnung destruktiven Zwängen und Manipulationen zu entziehen.

Das tut sehr, sehr weh. An "nicht-materiellen Werten" ist Faulfuß offenkundig gar nicht interessiert – die "sehr-materiellen" Werte sind dagegen wesentlich interessanter. Mir ist übel, das Gehirn schmerzt und ich fühle mich schmutzig. Ich habe die Rechtschreibung, das logische Denken und die kritische Distanz nunmehr verlernt und zusätzlich meinen Intellekt in den nächstbesten Gulli am Marktplatz jenseits der Realität geschmissen – also müsst ihr mir jetzt mindestens 12.000 Euro jährlich spenden! – Ja, wie – niemand hat Bock darauf? Was seid ihr denn bloß für ekelige, unsolidarische Arschlöcher!?! Ihr werdet alle in der Hölle schmoren – das hat sogar Faulfuß bestätigt!

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Bestrafte Ketzerei


"Die glaubten nicht an Darwin."

(Zeichnung von Thomas Theodor Heine [1867-1948], in "Simplicissimus", Heft 28 vom 12.10.1925)

Der redundante Einwurf (9): Die Jugend und der übergriffige Kanzlerkandidat


Ein Gastbeitrag des Altautonomen

Vorgestern Abend hatte ich, um besser einschlafen zu können, das ZDF eingeschaltet und mir die Sendung "Klartext mit Martin Schulz" ein wenig angesehen. Dort wurde dem Kanzlerkandidaten von der Moderatorin Bettina Schausten die (Originalzitat) "Klasse 12" des Humboldt-Gymnasiums in Neumünster vorgestellt. Tatsächlich handelte es sich um den "Leistungskurs Politik" der Jahrgangsstufe 12. Dabei musste ich meine bislang optimistische Meinung über die heutige Jugend korrigieren: Angepasst und kein bisschen aufmüpfig.

Was mir aber besonders auffiel, war das autoritäre Verhalten des Kandidaten Schulz. Aus den Sozialwissenschaften kenne ich im Bereich der Formen nonverbaler Kommunikation bestimmte körpersprachliche Regeln, die situationsangemessen dem Respekt des Gegenübers geschuldet sind; zum Beispiel die Rededistanz (mindestens 1 Meter). Daneben gibt es die wesentlich größere Aggressionsdistanz und die sehr nahe Intimdistanz bzw. olfaktorische Distanz (bis hin zum oberflächlichen Körperkontakt).

Wie er es zuvor schon bei erwachsenen Gästen praktiziert hatte, setzte Schulz sich direkt neben einen jugendlichen Fragesteller, nachdem ein anderer zwangsläufig seinen Platz für den Kandidaten räumen musste. Vielleicht wollte er damit Bürgernähe und menschlichen Kontakt signalisieren, denn sein Stehpult aus durchsichtigem Acryl stand verlassen mitten in der Arena.

Schulter an Schulter saßen dann Schulz und der Gymnasiast nebeneinander. In zwei Fällen war zu beobachten, dass Schulz sogar kurz seine Hand auf die Schulter des Schülers legte. Ein derartiger Körperkontakt wäre umgekehrt nicht denkbar und dient eigentlich, abgesehen von der Übergriffigkeit, Respektlosigkeit und Dreistigkeit des Herrn Möchtegernkanzlers, nur der sozialen Kontrolle, indem klargestellt wird, wer in der Hierarchie "oben" und wer "unten" steht (ab Minute 30:31 hier zu sehen).

Vielleicht waren die Jugendlichen auch einfach nur überrumpelt. Außerdem wird ihnen von Eltern und Schulpersonal ja permanent eingetrichtert, immer schön höflich zu bleiben, wenn eine "wichtige Person aus der politischen Elite" Platz fordert.

NEU IM DUDEN ab 2018: "Jemanden anschulzen". Worttrennung: "an|schul|zen" = Sich jemandem auf plump-vertrauliche Weise nähern.

Ich resümiere erfreut: Schulz ist bereits politisch tot, er ist nur zu faul zum Umfallen.


Dienstag, 12. September 2017

Song des Tages zum Wahltheater: Füchschen




(Reinhard Mey [*1942]: "Füchschen", aus dem Album "Flaschenpost", 1998; Text nach Goethes Dichtung "Reineke Fuchs", 1830)

Hör, was der alte Reineke dir sagt:
Wenn auch nur der allerkleinste Zweifel an dir nagt,
Füchschen, glaub ihm nicht!

Hey Füchschen, siehst du Isegrimm, den Ehrenmann,
das noble Wams mit dem Designertüchlein dran?
Wie er so erdverbunden scherzt, bemüht, sich anzubiedern.
Wie er so freundlich tut, wie er so volksnah lacht,
wie er auf "Ich bin doch auch einer von Euch!" macht.
Der Isegrimm beginnt mich anzuwidern.
Hat er doch lange schon vergessen, wo und wer wir sind,
vor Geltungssucht zerfressen und vor Machtgier blind,
sieht er sich nur noch selbst, der aufgeblas'ne Gockel.
Der beim Försterball noch eben mit der Wölfin tanzt
und dreist schon hinterm Schuppen mit der Ziege ranzt,
will jetzt mit eit'lem Ehrgeiz auf den Sockel.
Du hast gesehn, wie Isegrimm die Treue bricht.
Und wenn er dir das Blaue vom Himmel verspricht:
Füchschen, glaub ihm nicht!

Hör, was der alte Reineke dir sagt:
Wenn auch nur der allerkleinste Zweifel an dir nagt,
Füchschen, glaub ihm nicht!

Und vor Schwarzkittel, Füchschen, nimm dich ja in acht!
Er heuchelt Demut, doch er schielt nach der Macht,
er täuscht und trügt mit frommen Redensarten.
Er predigt Wasser und trinkt selber Wein
und redet dir Schuld und Sünden ein
und wildert an der Brut im eignen Garten.
Immer salbungsvoll, immer verkorkst und geil,
sorgt sich der schlimme Finger um dein Seelenheil.
Sieh ihn selbstgerecht die teig'gen Hände reiben!
Er will dich eingeschüchtert und verschreckt und brav,
will dich als willenloses, stummes Schaf,
denn nur mit Ahnungslosen kann er's so bunt treiben.
Doch gleichviel ob der schmierige Wicht
dir Fegefeuer oder Paradies verspricht:
Füchschen, glaub ihm nicht!

Hör, was der alte Reineke dir sagt:
Wenn auch nur der allerkleinste Zweifel an dir nagt,
Füchschen, glaub ihm nicht!

Und Füchschen, hüte dich vor der Frau Gieremund!
Nur Gift und Geifer sprudeln aus ihrem Schlund.
Sie unterwirft sich hündisch und aus freien Stücken.
Mit ihrem immer gestrigen Gejaul
redet sie dem Pfaffen nach dem Maul
und fällt den eignen Schwestern in den Rücken.
Und meide klug den Bullenbeißer Rüsteviel,
seine Spießgesellen und sein Narrenspiel.
Wo du die witterst, musst du schlimmes ahnen.
Sie haben nie dem dunklen Bösen abgeschwor'n,
sie ziehen dir das Fell über die Ohr'n
und die alte Losung* steht noch auf ihren Fahnen.
Und wenn da einer von Ehre, Stolz und Pflicht,
von Vaterland und Gehorsam spricht:
Füchschen, glaub ihm nicht!

Hör, was der alte Reineke dir sagt:
Wenn auch nur der allerkleinste Zweifel an dir nagt,
Füchschen, glaub ihm nicht!

Ich bin ein alter Knochen und mein Fell wird grau,
ich kenn die Fallen und die Wolfseisen genau,
kenn die Schrunden und die Beul'n, wenn sie das Fell dir gerben.
Ich kann dich lehr'n, vor der kläffenden Meute zu fliehn,
die Kunst, den Kopf aus der Schlinge zu ziehn,
diesen Schlitz im Ohr, den kann ich dir vererben.
Lehr dich geschmeidig gehn, gegen den Wind,
lehr dich Worte, die wie giftige Köder sind,
dann werd ich lautlos seitwärts im Gebüsch verschwinden.
Dann halt die Augen auf, pass auf wie ein Luchs!
Wasch dich mit allen Wassern, kleiner Fuchs,
du musst allein die eigne Wahrheit finden.
Und wenn dann jemand aus dem Unterholz bricht
und die allein seligmachende Weisheit verspricht:
Füchschen, glaub ihm nicht!

Hör, was der alte Reineke dir sagt:
Wenn auch nur der allerkleinste Zweifel an dir nagt,
Füchschen, glaub mir nicht!

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*: In der Waidmannsprache: Kot

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(Zeichnung von Wilhelm von Kaulbach [1805-1874] zu Goethes "Reineke Fuchs", um 1840)

Montag, 11. September 2017

Bildung: Wer "Elite" sagt, meint Faschismus


Nun hat sich auch der geschätzte Stefan Gärtner aus seinem Sommerurlaub in Dänemark zurückgemeldet und gleich mal – passend zum "Aufstieg der Begabten" – einen wunderbaren Text zur haareraufenden Bildungssituation in Deutschland abgeliefert, den ich in weiten Teilen nur wärmstens empfehlen kann. Er schließt mit den wohlfeilen Worten:

Ein mir nahestehender Verwandter berichtet von einem dieser Elternabende, die man lieber in Dänemark hätte: "Die Leistungen der hessischen Grundschulen werden verglichen. Damit man nicht die Bad Homburger Privatschule mit einer im Frankfurter Gallusviertel vergleicht, werden die Schulen kategorisiert, nach Lehrer-Schüler-Schlüssel etwa oder nach dem Bildungsgrad der Eltern. Wie denn dieser gemessen werde? Man lässt die Kinder malen, wie viele Bücherregale es zuhause gibt, je mehr, desto gebildeter."

Zauberhaft; als würden die Mittelschichtsregale (feat. Fitzek, Zeh und Rita Falk) nicht immer kleiner und werde nicht längst sehr viel mehr Zeit mit Netflix und Thomas Müller als mit Nietzsche und Thomas Mann verbracht. Aber was ein kulturelles, (im Doppelsinn) symbolisches Kapital ist, das sollen auch die Kleinen gleich lernen, und wer hat, der hat und messe sich nicht mit Habenichtsen, denn wozu sollte das gut sein, wenn nicht zu irgendwelchen Umverteilereien? Sollen sich die Restschulen für Regalferne ruhig untereinander vergleichen, das ist eh eine eigene Welt; derweil schauen wir, wer die meisten Fremdsprachen hat, denn nach oben ist wieder Luft: "Heute ist Lukas 16, er spricht Französisch, Englisch, Russisch, Spanisch und Chinesisch und peilt das deutsch-französische Abitur Abibac an" (SZ). Das ist, ganz ohne Ironie, schön für ihn, und mit der gewissen Grundhomogenität hat es das Milieu nun mal.

Solange die das Milieu nicht verlässt.

Das trifft – wie so oft – mitten ins Schwarze und entlarvt den gesamten "Eliten"-Karneval, der in diesem verkommenen Land in Sachen Bildungsmythos seit langem eine üble Schimmelpilzblüte nach der anderen treibt und immer weiter ins Absurde getrieben wird, als menschenfeindlichen Unfug. Man lese sich das sehr aufmerksam durch.

Dennoch muss auch hier Kritik erlaubt sein. Ich kann jedenfalls in keiner Weise verstehen, weshalb Gärtner das "dänische Modell" für Kleinkinder über den Klee lobt. Ist es denn wirklich erstrebenswert, wenn "neunzig Prozent der Kinder [zwischen einem und drei Jahren] eine vuggestue, die Kinderkrippe" besuchen? Was ist denn dagegen einzuwenden, wenn Kinder im Vorschulalter ein ganz "normales Familienleben" zuhause erleben und nicht bereits in diesem zarten Alter, in dem freundschaftliche Bindungen zu anderen Kindern oder Erwachsenen oder ähnliche pädagogisch erstrebenswerte Ziele noch gar nicht vorstellbar sind, in irgendwelchen Einrichtungen verwahrt und stattdessen auf das kapitalistische Haifischbecken vorbereitet bzw. schlicht dafür abgerichtet werden? Der einzige und offensichtliche Grund, der mir einfällt, weshalb die kapitalistische Bande so sehr an einer umfassenden "Kita-Betreuung" – möglichst schon ab dem Kleinkindalter – interessiert ist, besteht darin, dass beide Elternteile sofort nach der Geburt eines Kindes wieder der Ausbeutungsmaschinerie zur Mehrung der Profite der Kapitaleigner zur Verfügung stehen sollen, anstatt sich um ihre Blagen zu kümmern. Mit dem Kindeswohl hat das ganz gewiss nichts zu tun. Einen Grund, weshalb Gärtner das nicht ebenfalls scharf kritisiert, suche ich indes – nicht bloß in seinem Text – vergebens.

Letzten Endes ist das nichts anderes als die zeitgemäße Adaption des neofeudalen Konzeptes – bestens bekannt aus so illustren bzw. verkommenen Kreisen wie beispielsweise dem kaltherzigen, sich stets um ihre Kinder kümmernden Haus von der Leyen. Es gibt da nur den kleinen Unterschied, dass der gemeine Pöbel, zu dem selbstredend auch die sich, aus welchen Gründen auch immer, "elitär" wähnende Mittelschicht bzw. das "Bürgertum" gehört, heute natürlich keinerlei Einfluss mehr darauf hat, welche Ideale und Ideen den Kindern und Jugendlichen dort nahegebracht werden: Wenn eine Kita, eine Schule, ein Internat oder eine Uni viel Geld kostet, ist das für solche Leute schon ein ausreichender Beleg für die Qualität der Einrichtung. Wie dämlich das ist, fällt wohl nur den allerwenigsten auf – und auch das erst dann, wenn es längst zu spät ist.

Es ist schlimm genug, dass man in Kapitalistan seinen Kindern den Besuch der staatlich erzwungenen Schule und die damit verbundenen geistigen, emotionalen und sozialen Deformierungen nicht ersparen kann – zumindest in den wenigen Jahren davor sollte man sie diesem Terror aber doch bitte tunlichst nicht aussetzen. Was habe ich mir vor Jahren die Gosche fusselig geredet und dies und das und jenes getan, um meinen Töchtern den Weg zu einem sozialen Denken und solidarischen Leben zu ebnen. Die Erfolge sind zwar mäßig, aber beileibe auch nicht unsichtbar.

Ich lehne mich jetzt mal – ganz gegen den perversen Zeitgeist – weit aus dem Fenster und behaupte: Wer seine Kinder schon ab dem ersten, zweiten oder dritten Lebensjahr "fremdbetreuen" lassen möchte, ist ein ausgemachtes Arschloch, sofern keine anderen als "berufliche" Gründe genannt werden. Und wer seinem Kind den Kaputtalismus lehrt und ihm Egoismus (also Konkurrenz) einimpft, anstatt es humanistisch zu betreuen, sollte sich doch lieber einen devoten Köter zur Befriedigung seiner Krankheit zulegen.

Wer von "Elite" spricht, ist sich auch stets des "minderwertigen Lebens" sicher. Und das ist – wir wissen es alle und dennoch nennt es kaum jemand so – stumpfer Faschismus.

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Wölfe und Menschen

Eines Nachts, kurz nach zwölfe
(wo ist einerlei)
begegneten sich im Wald zwei Wölfe;
sie gingen still aneinander vorbei
und jeder dachte für sich:
Ein Wolf wie ich.

In derselben Nacht,
einerlei wo,
ging es zwei Menschen ebenso.
Kaum war der eine am andern vorbei,
hat jeder gedacht,
dass der andre ein Dieb oder Mörder sei.

Mir soll keiner mehr auf die Wölfe schelten:
sie lassen einander doch als Wölfe gelten.

(Rolf Mayr [1899-1961], in: "Der Simpl", Nr. 1 vom Januar 1947)