Freitag, 1. Dezember 2017

Realitätsflucht (39): BioShock Infinite


Es ist wieder einmal Zeit für eine wilde Flucht aus der bösen Realität, die immer bizarrer und unerträglicher wird. Mein heutiges Ziel ist erneut die Spielwelt von "BioShock": Es geht um den dritten und bislang letzten Teil des Werkes, das vom amerikanischen Entwicklerstudio "Irrational Games" entwickelt und im Jahr 2013 veröffentlicht wurde (über den zweiten Teil habe ich vor knapp zehn Monaten berichtet), nämlich um "BioShock Infinite".



Um eine "richtige" Flucht handelt es sich hier allerdings nicht, denn auch dieses Science-Fiction-Spiel bezieht sich inhaltlich auf die heutige Zeit, ganz gemäß der groben literaturwissenschaftlichen Definition:

"Science Fiction [in ihrer nicht rein auf kommerzielle Interessen ausgerichteten Form, Anm.d.Kap.] entwirft keineswegs Zukunft, sondern Alternative; sie springt in die andere Wirklichkeit und meint nicht die Zukunft, sondern die Gegenwart." (Dieter Wuckel: "Science Fiction. Eine illustrierte Literaturgeschichte", 1986)

Zur Geschichte möchte ich aus Spoilergründen nicht allzu viel schreiben. Anders als in den ersten beiden Teilen spielt man hier einen typischen Antihelden – den Herrn Booker DeWitt –, der sich 40 Jahre vor den Ereignissen in den Vorgängerteilen aus zunächst mysteriösen Gründen aufmacht, eine junge Frau namens Elizabeth aus der "fliegenden Stadt" Columbia zu befreien, wo sie gefangen gehalten wird. Wie auch zuvor entblättert sich die Geschichte im Verlauf des Spieles nur langsam – und auch nur dann, wenn man Augen und Ohren offenhält, sich in der Spielwelt aufmerksam – auch abseits des meist vorgezeichneten Weges – umschaut und all die Ton- und Bildaufzeichnungen, die sich überall finden lassen, aufmerksam anhört bzw. anschaut. Es geht – und das ist nicht übertrieben oder überinterpretiert – um die Geißel des Kapitalismus', um religiösen Wahn, Nationalismus, Rassismus und dumpfen Faschismus. Dieses unappetitliche, tiefbraune Szenario wird extrem anschaulich und unmissverständlich am Beispiel eines ins Extreme bzw. Absurde überzeichneten "American Exceptionalism" – also der in den USA bis heute weit verbreiteten Vorstellung von der "Einzigartigkeit der amerikanischen Nation" [*glucks*] – dargestellt.

Dabei ist die Überzeichnung – beispielsweise bezüglich des religiösen Fanatismus' oder des Rassismus' – heute erschreckenderweise gar nicht mehr so realitätsfern, und das bezieht sich keineswegs bloß auf die USA.


("For God and Country")

Diese Geschichte, die dieses dramaturgisch vorzüglich inszenierte Spiel erzählt, ist ein wirkliches Highlight aus der kompletten, genreübergreifenden Branche. Dennoch bleibt das Werk weit hinter seinen Möglichkeiten zurück, denn letzten Endes bleibt es ein "Shooter", wenn es auch angereichert ist durch einige (wenige) Rollenspielelemente. Neben der Geschichte und dem grafisch entwaffnend gut umgesetzen Szenario der "fliegenden Stadt" besteht der Großteil des Spieles nach wie vor daraus, mithilfe verschiedenster Waffen, Spezialfertigkeiten und taktischer Vorgehensweise haufenweise Gegner niederzumetzeln, ohne dabei selber ins Gras zu beißen. – Was für ein wegweisendes Spiel hätte "Infinite" werden können, wenn die Entwickler sich dazu entschlossen hätten, stattdessen ein tiefsinniges Rollenspiel ohne dauerndes Herumgeballere daraus zu machen!

Die Atmosphäre einer amerikanischen Stadt aus dem Jahr 1912, die sich dank "moderner Technik" vom "ketzerischen, liberalen und demokratischen" Rest der USA in die Wolken verabschiedet hat, um dort das kapitalistische, gottgewollte Paradies der weißen Herrenrasse zu errichten, ist jedenfalls perfekt umgesetzt worden. Ich wüsste nicht, wie man das noch besser machen könnte. Dazu zählen neben der Architektur und all den kleinen und großen Details – wie beispielsweise Schallplatten statt Tonbändern, die es 1912 in der bekannten Form noch gar nicht gab – auch die Musik, die ganz im Zeichen des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts (in den USA) steht. Ein Beispiel:


(Garry Schyman: "Elizabeth", aus dem Soundtrack zum Spiel)

Einen weiteren Kritikpunkt will ich nicht verschweigen: Man merkt dem Spiel an allen Ecken und Enden an, dass es für die Konsolenpest konzipiert bzw. optimiert wurde. So gibt es kein wirkliches Inventar, keine Karte, die Steuerung per Maus und Tastatur ist extrem eintönig und wenig intuitiv, die eingeblendeten Symbole sind so groß wie Mühlräder (auf dass man sich als Spieler wie ein infantiler Hampelmann fühle), und vor allem gibt es nicht nur keine Schnellspeicherung, sondern überhaupt keine freie Speichermöglichkeit mehr: Man muss also warten, bis das Spiel automatisch einen "Sicherungspunkt" anlegt, bevor man es beendet – ansonsten darf man bei der nächsten Spielsession wieder beim letzten erreichten Punkt beginnen. Was treibt Entwickler dazu, einen solchen Mumpitz auch für den PC zu kreieren? Die Konsolenkacke ist eine wahre Seuche.

Dafür lief "Infinite" auf meinem Win7/64-System völlig stabil und ohne jeden Absturz. Bugs sind mir nicht aufgefallen. Die deutsche Sprachausgabe ist professionell und ohne jeden Makel – dass sich die optional einblendbaren Texte gelegentlich vom gesprochenen Wort unterschieden, kann man leicht verschmerzen. Leider ist das Werk genretypisch sehr kurz: Selbst ein "Alles-Erforscher" und Langsamspieler wie ich hatte es in weniger als 30 Stunden durch.


(Der Antiheld "Booker DeWitt" auf einem Plakat aus Columbia)

Das Ende der Geschichte – manch einer mag sich fragen, wieso DeWitt angesichts dieser Abbildung ein "Antiheld" sei – verliert sich leider in allzu peinlichen, fast schon absurden SF-Klischeegefilden, die dem brisanten Thema und seiner Auflösung gekonnt ausweichen (was auch schon beim ansonsten so grandiosen "The Moment of Silence" der Fall war). So ein alberner Schluss verdirbt so vieles. Da hat wieder einmal der "Markt" bzw. der angestrebte Profit seinen Duft hinterlassen und vieles zerstört. Man vergleiche dazu einmal den offiziellen, ganz oben eingebetteten Trailer zum Spiel mit dem älteren Gameplay-Trailer aus dem Jahr 2012, bevor das Spiel veröffentlicht wurde (siehe unten): Nahezu keine der dort so wunderbar ausgewalzten systemkritischen Szenen hat es ins fertige Spiel geschafft. Hier war offensichtlich ein (vermutlich kapitalistisch motivierter) Zensor am Werk:



Es gibt (meinens Wissens) drei Addons zu diesem Spiel, von denen ich jedoch nur eines gespielt habe, nämlich "Seebestattung" ("Burial at Sea", zwei Episoden). Hier verschlägt es den Spieler wieder in die aus den ersten beiden BioShock-Teilen bekannte Unterwasserstadt "Rapture", was zwar für viel nostalgischen Flair sorgt, ansonsten aber wenig erwähnenswert ist: Dort geht es nur noch um Ballerei, während das Unterwasser-Szenario zur bloßen Kulisse verkommt. Eine tiefgründige Geschichte sucht man hier vergebens.

Als Resümee kann ich festhalten: "BioShock Infinite" erzählt eine hochaktuelle, beklemmende dystopische Geschichte, kleidet diese jedoch in ein allzu oberflächliches, manchmal gar infantiles Gewand, das dem Thema nicht gerecht werden kann. Damit steht es auf derselben, leider wenig erbaulichen Stufe wie "The Last of Us" (das ich mangels Konsole nicht selber gespielt, sondern nur teilweise angesehen habe). Einen zweiten Durchlauf habe ich vor einigen Wochen nach der Hälfte des Spieles abgebrochen, weil ich die Geschichte schon kannte und mir das ständige, stumpfsinnige Ballern schlicht langweilig wurde.



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Bonmot am Rande, zitiert nach Wikipedia:

Im Dezember 2013 verwendete die der US-amerikanischen "Tea-Party"-Bewegung nahestehende "The National Liberty Foundation" ein Artwork des Spiels, u.a. mit der Inschrift "For God and Country – It Is Our Holy Duty To Guard Against The Foreign Hordes", als Ausdruck ihrer Ablehnung von Zuwanderung. Das Artwork dient im Spiel zur Illustration der rassistischen Einstellung der Gründer und wurde mancherorts auch als karikative Anspielung des Entwicklerteams auf die "Tea Party" interpretiert. 2014 verwendete der konservative US-Fernsehsender "Fox News" das Logo-Artwork von "BioShock Infinite" mit dem Schriftzug "Defending the Homeland" zur Illustration eines Interviews mit dem texanischen Gouverneur Rick Perry, unter anderem über das Thema illegale Einwanderung. Levine [einer der Entwickler des Spiels, Anm.d.Kap.] bezeichnete die Verwendung des Logos in diesem Zusammenhang als Ironie.

Mittwoch, 29. November 2017

Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung gilt universell


Ein Gastbeitrag des Altautonomen

Darf eine Tabledancerin von notgeilen Truckern angegrapscht werden? Schließlich provoziere sie das doch mit ihren aufreizenden Simultan-Fick-Bewegungen und ihrer nackten Haut. Und Männer seien nun mal Sklaven ihres Testosteronspiegels. Da müsse doch der Druck aus dem Kessel. – Doch falls das jemand wagen sollte, würde ihm vom Sicherheitspersonal schneller das Fliegen beigebracht, als er seinen Truck starten könnte.

Würden die Gäste auf einer Erotik-Messe es wagen, eines der dort um Aufträge konkurrierenden Pornosternchen körperlich zu berühren, könnte der Betreffende vielleicht frühestens nach vier Wochen wieder flüssige Nahrung aus der Schnabeltasse zu sich nehmen. – Und sind Prostituierte, die vergewaltigt werden, keine Opfer, weil diese Form zwischenmenschlicher Kontakte doch ihre eigentliche Profession sei? Auch diese Frage dürfte geklärt sein.

Beim kiezschreiber konnte ich neulich einem Text mit dem Titel "#metoo erreicht Deutschland", der sich mit dem Erotik-Model Micaela Schäfer befasste, entnehmen, dass sich derartige Frauen, die sich das Sexbusiness auf die Fahnen geschrieben haben, bitte nicht beschweren mögen, wenn sie von einem "großen Filmstar" wie Steven Seagal mal ans Knie gefasst und gefragt werden, ob sie mit auf sein Hotelzimmer gehen.

Mit rhetorischer Begleitmusik wird dort ein Kontext gezimmert, der dem Leser suggeriert, dass "Bitches" kein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung haben, weil sie es ja regelrecht mit allen Künsten einer aggressiven Sexualität darauf anlegten, betatscht zu werden. In dieser Logik trägt auch der Juwelier, bei dem eingebrochen wurde, eine Mitschuld, weil er ja die Klunker im Schaufenster ausgestellt und so den Dieb zum Zugriff provoziert habe. Das erinnert sehr an die in früheren Gerichtsverhandlungen gerne unterstellte "bedingte Einvernehmlichkeit" des Opfers einer sexuellen Straftat, weil es beispielsweise einen Minirock trug, der Einblicke bis zwischen die Mandeln ermöglichte.

Der Blogbetreiber war sich nicht einmal darüber im Klaren, dass auch das Betatschen des Knies seit Dezember 2016 strafbar ist.

Die Schauspielerin Sibel Kekilli ist vor Jahren als Hardcore-Pornodarstellerin mit türkischen Wurzeln durch die BLÖD-"Zeitung" in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit und Kritik geraten. Heute ist sie eine hochdekorierte Filmschauspielerin in Deutschland mit bester gesellschaftlicher und künstlerischer Reputation. Sie sollte sich von Steven Seagal [und vermutlich auch vom kiezschreiber, Anm.d.Kap.] tunlichst fernhalten.

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Fucking Perv


(warandpeas.com)

Montag, 27. November 2017

Faschismus: Unsere lieben BürokratInnen


Du weißt, dass Du in einem faschistischen Land lebst, wenn Du in der Qualitätspresse solche Meldungen lesen darfst:

Ein im Internet kursierendes Schreiben des Düsseldorfer Ordnungsamtes an einen 83-jährigen Senior sorgt für heftige Diskussionen. Darin wird von dem Mann ein Verwarnungsgeld von 35 Euro dafür verlangt, [weil] er sich für einige Minuten an einer Bushaltestelle ausgeruht hat.

Bezeichnend ist hier weniger die Tatsache, dass das "Ordnungsamt" einen hochbetagten Rentner eines schlimmen Vergehens bezichtigt (Benutzung einer "Anlage des ÖPNV an der vorgenannten Örtlichkeit nicht ihrer Zweckbestimmung entsprechend"), sondern die Begründung, in der es sinngemäß heißt, dass sich selbstverständlich jeder ältere Mensch an einer Bushaltestelle niedersetzen und ausruhen könne, sofern es sich nicht um ein Mitglied der "Obdachlosen- oder Trinkerszene" handele.

Das ist sowas von hakenkreuzverdächtig, dass mir dazu entsprechende Worte fehlen. Was sind das bloß für "MitarbeiterInnen", die so etwas dem Amt melden; und was sind das für widerliche Kreaturen, die daraus allen Ernstes einen amtlichen Bußgeldbescheid machen? Das grenzt ja schon an die kruden "Jobcenter"-Praktiken – und das will etwas heißen.

Wer hier rechtsextreme staatliche Praktiken erkennt, die mit den furchtbaren Jahren ab 1933 ohne jede Einschränkung vergleichbar sind, befindet sich auf einem guten, keineswegs übertriebenen Weg der Erkenntnis: Die Unterscheidung zwischen einem "normalen" Bürger und einem "asozialen Subjekt" war damals ebenso ausgeprägt. Wir leben in einem stetig radikalisierten Albtraum der faschistischen Menschenfeindlichkeit.

(Kotzgeräusche in ohrenbetäubender Lautstärke übertönen den Rest dieses Kommentars.)

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Bekanntmachung: Todesstrafe


(Aushang der Nazibande in Warschau vom 10.11.1941)