Dienstag, 19. September 2017

Schlips-Borg-Nachrichten aus dem Paralleluniversum des sabbernden Irrsinns (5): Das Paradies


Seit Jahrzehnten verbreitet die kapitalistische Propagandapresse das Märchen, allen Menschen in Deutsch-Kapitalistan gehe es nicht nur gut, sondern – man horche und staune – immer besser. Das Paradies scheint nur wenige Fußschritte entfernt zu sein, wenn man diesen Orwell'schen Berichten folgt. Anfang des Monats war bei n-tv wieder einmal ein solcher Jubelpsalm zu lesen, in dem es hieß:

Große Ausgabebereitschaft / Deutsche strotzen vor Optimismus: Die deutschen Verbraucher schätzen die derzeitige wirtschaftliche Lage sehr gut ein. Dementsprechend locker sitzt das Geld in ihren Portemonnaies. (...) Die deutschen Verbraucher blicken einer Studie zufolge derzeit so optimistisch in die Zukunft wie noch nie.

Das Paradies ist nahe. Die deutsche Bevölkerung war noch niemals zuvor so dicht dran an dem mythischen Land, in dem Milch und Honig fließen und die gebratenen Tauben ohne eigenes Zutun in die Mund fliegen. Die Qualitätspresse hat's geschrieben, also muss das wohl stimmen. Es gibt keine Armut, keine Obdachlosigkeit, keine um sich greifende, materielle Existenzangst in diesem Land – die Hoheiten haben das angesagt, also ist das auch so und wird folgsam ausposaunt.

Da trübt die einen Tag zuvor veröffentlichte Meldung im selben Medium die Heilige Messe nur am Rande, denn nichts ist unwichtiger als alte Nachrichten:

Trotz guter Konjunktur ist das Armutsrisiko in Deutschland nicht gesunken. Besonders betroffen sind Erwerbslose und Alleinerziehende, aber auch Kinder und Heranwachsende sind zunehmend armutsgefährdet. (...) Mittlerweile ist jeder fünfte unter 18-Jährige von Armut bedroht.

Tja. Wie soll die Propaganda damit auch anders umgehen als die Realität schlicht zu ignorieren und stattdessen "alternative Fakten" zu präsentieren? Wenn die Herrschaft sagt, dass es "allen gut" zu gehen habe, dann haben Qualitätsjournalisten das nicht zu hinterfragen: Schließlich weiß das Merkelmonster, dass wir hier allesamt "gut und gerne leben" und dass "Wohlstand für alle" das inzwischen fast erreichte Ziel sei. Und wenn Queen Angela, die sich mit Ausnahme der Kopfbedeckung längst so kleidet und präsentiert wie die originale Queen in England, alles super findet, dann findet das auch die "vierte Gewalt". Armut, staatliche Zwangsverarmung, Obdachlosigkeit und Existenzangst gibt es nicht in Deutschland – und wenn, dann ist das Leid selbst verschuldet. Dafür kann doch die Königin nichts!

Wir leben im Paradies. Besser kann es eigentlich nicht mehr werden – aber wir dürfen dennoch gewiss sein, dass es auch weiterhin Meldungen in den Systemmedien geben wird, die trotz alledem weiterhin stetige Verbesserungen verkünden werden. Wie das sein kann – denn was soll am Paradies noch verbessert werden? –, fragen indes nur schändliche, linksextreme Terroristen, die das Paradies wieder abschaffen wollen. – Die Kapitalisten haben von Orwell gut gelernt und folgen einmal mehr der braunen Tradition.

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Die Zukunft Europas


"Wenn niemand mehr etwas anzuziehen hat, ist das dann das Paradies?"

(Zeichnung von Thomas Theodor Heine [1867-1948], in "Simplicissimus", Heft 21 vom 18.08.1920)

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