Mittwoch, 18. Januar 2017

Obdachlose: Die ersten Opfer des Faschismus


In unserem paradiesischen Land, in dem christlich-menschenfreundliche Werte wie "Wettbewerb", Konkurrenz und Ellbogenmentalität von Kind auf mahnend gepredigt werden und ein heiterer Reigen, in dem jeder gegen jeden anzutreten hat, um das eigene Wohl auf Kosten der anderen zu mehren, zum heiligen Gral und felsenfesten Zentrum des Daseins erkoren wurde, läuft alles nach Plan: Der Rassismus feiert ungeahnte Aufstiege, der Gedanke der Solidarität ist nahezu gänzlich verschwunden und die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gehört wieder zum guten Ton in weiten Teilen der Bevölkerung. Politik und Medien haben's dank permanenter, jahrzehntelanger Vorbeterei möglich gemacht.

Bei n-tv las ich vor einigen Tagen:

Verachtetes "Freiwild": Obdachlose werden brutal attackiert / (...) Obdachlose werden immer wieder Opfer von Gewalt. Das zeigt auch ein kurzer Überblick über die Fälle aus dem Jahr 2016: Sie wurden ins Gesicht getreten, mit einem Hammer geschlagen, angezündet, mit einem Baseballschläger gegen den Kopf geschlagen und mit Silvesterraketen beschossen. "Es ist ein weites Spektrum an Gewalttaten", sagt der Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W), Thomas Specht. "Extrem grausam" seien die Taten. (...)

Der Grund seien oft Ressentiments gegen die Obdachlosen: "Sie sind eine der am wenigsten angesehenen Gruppen der Gesellschaft." Sozialwissenschaftler sprechen von "gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit". Eine aktuelle Untersuchung zeigt: 19,4 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, die meisten Obdachlosen seien "arbeitsscheu". Dass bettelnde Obdachlose "aus den Fußgängerzonen entfernt werden" sollen, fand mehr als ein Drittel richtig.

Und so geht das munter weiter. Ich habe mich über das Thema, das keineswegs neu ist, schon öfter ausgelassen (beispielsweise hier, hier, hier oder hier), aber selbstverständlich nimmt das Problem im vereisten Kapitalistan stetig an Fahrt auf, anstatt erfolgreich bekämpft zu werden - und das ist genauso natürlich staatlich bzw. politisch gewollt. Anders ist der unsägliche Hartz-Terror, der für alle Betroffenen ständig auch die unmittelbare Drohung des Verlustes der Wohnung beinhaltet, nicht erklärbar.



Umso erstaunlicher ist es, dass es heute erneut widerliche Menschen gibt, die ausgerechnet diese ohnehin "Aussortierten", also die Schwächsten, zum Ziel ihrer grauenhaften Gewaltfantasien küren. Der Faschismus ist offensichtlich nicht ausrottbar, solange der Kapitalismus das (Da-)Sein bestimmt - auch diese Erkenntnis ist natürlich nicht neu, wie schon Max Horkheimer in seiner Schrift "Die Juden und Europa" (1939) bemerkte: "Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen."

Noch gruseliger ist es, dass auch heute - wie schon vor 90 Jahren - höchst unterschiedliche Menschen dieser gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (die sich im übrigen heute wie damals keineswegs auf Obdachlose beschränkt) huldigen: AkademikerInnen hetzen geifernd neben ArbeiterInnen, ProfessorInnen schwafeln ebenso haltlosen Bockmist wie Bildungsferne, und am Ende schlägt irgendein Schlächter einem schlafenden Obdachlosen den Schädel ein. Wundern kann sich darüber eigentlich nur jemand, der nicht bemerkt oder bemerken will, was dieses unselige kapitalistische Konzept des "Wettbewerbes" und Konkurrenzdenkens aus eigentlich gesunden, empfindungsfähigen Menschen macht - nämlich zutiefst kranke, emotional und intellektuell verkrüppelte Zombies, denen einzig die eigenen Penunzen heilig sind und die jedwede Empathie verloren haben - sogar dann, wenn auch sie selbst längst am Rande der Klippe stehen oder bereits darüber hinausgedrängt - also "aussortiert" - wurden.

Die Phrase von der "Informations-" oder gar "Wissensgesellschaft", in der wir uns heute laut gerne kolportierter Propaganda befänden, könnte grotesker gar nicht sein. Das Gegenteil ist eher der Fall: Die Menschheit ist weit hinter die so genannte Aufklärung zurückgefallen und befindet sich auf direktem Kurs zurück in die stumpfsinnige Barbarei - mit Pauken und Trompeten und quer durch alle Gesellschaftsschichten.

Obdachlose, Arbeitslose, Flüchtlinge und "Ausländer" sind "nur" die ersten Opfer des Faschismus'. Der Rest der Horrorgeschichte sollte allen bekannt sein. - Derweil gilt auch weiterhin: "Es ist alles still, wie in einer verschneiten Winternacht. Nur ein leiser, monotoner Tropfenfall. Das sind die Zinsen, die fortlaufend hinabträufeln in die Kapitalien, welche beständig anschwellen; man hört ordentlich, wie sie wachsen, die Reichtümer der Reichen. Dazwischen das leise Schluchzen der Armut. Manchmal auch klirrt etwas, wie ein Messer, das gewetzt wird." (Heinrich Heine, 1854)

---

"Hitler in uns"
[oder: "Deutschland geht es gut"]


"Ausrotten sollte man sowas!!" - "Minderwertiges Subjekt!!"

(Zeichnung von Josef Nyary [1910-1973], in: "Der Simpl", Nr. 23 vom Dezember 1947)

11 Kommentare:

schadensmeldung hat gesagt…

Ich hatte diese Video nur ein paar Minuten angesehen, mehr wollte ich mir nicht zumuten, da ich mich mit diesem Thema leider auch schon auseinandersetzen muß. Ich kann nur hoffen, dass ich mit meinen 61 Jahren nicht als Schrott ende.
Frage mich nach meinen Ängsten –

MT hat gesagt…

Ich habe das ganze Video angeschaut und bin immer wieder schockiert, wie weit es inzwischen gekommen ist. Vor ein paar Wochen habe ich im Kino "Ich, Daniel Blake" gesehen und ich kann nur sagen, dass ich selten so mitgenommen von einem Film war. Dabei dachte ich die ganze Zeit: ist ja hier in Deutschland auch nicht wirklich anders.

Ich finde es wichtig, dass solche Themen verbreitet werden und dass die Menschen, die damit konfrontiert sind, sich offen dazu äußern. Ich hatte auch schon mit dem Job Center zu tun und will nie wieder dort hin. Es wird einem nicht wirklich geholfen. Man muss ein unnötiges Bewerbungsseminar mitmachen, das meistens völlige Zeitverschwendung ist. Hinter jeder Kleinigkeit muss man hinterherlaufen und man kommt sich vor, wie ein debiles Kind. Wenn alle Firmen so mit ihren "Kunden" umgehen würden, wären sie schon längst pleite.

Deswegen danke für diesen Beitrag. Hier hat ja ein Kommentator letztens geschrieben, dass die "linke" Bloggerszene nicht wirklich wichtig ist und außer Stammtisch-Gebrabbel nichts zur Veränderung beiträgt. Das mag teilweise stimmen. Jedoch bin ich immer sehr froh, dass es Menschen gibt, die sich mit solchen Themen befassen und es irgendwie sichtbar machen. Auch wenn es in einem kleinen Rahmen geschieht.

epikur hat gesagt…

Das wirklich Erschreckende ist doch, dass es eben keinen Fortschritt der Zivilisation gibt, sondern, dass sie eher spiralenförmig verläuft. Das angeführte Gedicht von Heinrich Heine und auch die Zeichnung von Josef Nyary sind schon uralt und dennoch aktueller denn je. Wir sollten viel mehr aus der Geschichte der Nicht-Herrschenden lernen.

Troptard hat gesagt…

Hallo Charlie!

"Um so erstaunlicher ist es, dass es erneut widerliche Menschen gibt, die ausgerechnet die ohnehin "Aussortierten", also die Schwächsten, zum Ziel ihrer grauenhaften Gewaltfantasien küren."

So erstaunlich finde ich das nicht, weil sich die Demokratie, wie in der Weimarer Republik, wieder einmal als grosse Täuschung erweist. In Krisenzeiten wird offensichtlich, dass ihr nicht das Allgemeininteresse seiner Bürger zugrunde liegt, sondern ein sehr spezielles Staatsinteresses, welches eng mit der Kapitalverwertung verbunden ist.

Und das ist wohl auch keine neue Erfahrung, dass die Übergange von einem demokratischen zu einem autoritären bis hin zu einem faschistischen System ziemlich fliessend sind.
Die unbeantwortete Frage für mich ist immer noch, warum sich die Menschen gegen ihre eigenen Interessen in Stellung bringen und warum sie offensichtlich Opfer in der Gesellschaft brauchen, warum sie gegen diese Opfer gleichgültig und voller Missachtung sind.

Liegt es nur daran, dass der Staat in Krisenzeiten den existenziellen Druck auf seine Bürger enorm verstärken kann, seine Herrschaft über den Bürger sich potenziert, oder auch daran, dass sich dieser Bürger nichts anderes vorstellen will und kann, unter diesen Verhältnissen weiter zu leben.

Wenn Letzteres zutreffen sollte, dann "Gute Nacht".

Ich habe mir das Video vollständig angesehen und war überrascht, mit welcher rationalen, bürokratischen Kälte dort über Schicksale von Menschen entschieden wird.





Charlie hat gesagt…

@ MT: Danke für den Zuspruch. Ich könnte hier eine Unzahl von Beispielen für den unsäglichen Hartz-Terror posten, die ich persönlich kenne, wenn ich dadurch nicht den Datenschutz und die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen verletzte. Individuelle Fälle lassen sich im "digitalen Zeitalter" schließlich leicht nachverfolgen, und ich möchte nicht, dass Betroffene noch mehr Behördenterror erleiden müssen.

Die verlinkte Doku ist im übrigen knapp sieben Jahre alt - es dürfte niemanden verwundern, dass sich seitdem nichts zum Besseren, dafür aber vieles zum Schlechteren entwickelt hat (Rentenbeiträge beispielsweise werden für Verarmte inzwischen nicht mehr gezahlt). Außerdem ist der Film ein erhellendes Beispiel für den kapitalistischen Arbeitswahn - dem Betrachter schreit ja geradezu die Intention entgegen, dass es das allererste und einzige Ziel aller Menschen sein solle, sich via "Arbeit" zu prostituieren. Hintergründe oder gar Ursachen für den Staatsterror und die Armut werden dort nicht genannt - es ist eben eine öffentlich-rechtliche Dokumentation und damit trotz aller vordergründiger Kritik nur kapitalistische Propaganda.

Liebe Grüße!

Charlie hat gesagt…

@ Troptard: Deine unbeantworte Frage bewegt mich ebenso. Ich hege da zwar gewisse Befürchtungen, habe die Hoffnung aber noch nicht gänzlich verloren. Das hängt allerdings von meiner "Tagesform" ab ...

Die perversen Eichmänner blühen in diesem verkorksten System jedenfalls wieder auf wie der Löwenzahn im Frühling auf dem Rasen vor meinem Fenster. Es ist zum Davonlaufen.

Liebe Grüße!

Troptard hat gesagt…

@Charlie,

wenn Du Deine Befürchtungen hier niederschreiben würdest, so gebe es für mich und andere sicherlich Anlass für eine weiterführende und sicherlich auch fruchtbare Diskussion.

Ich muss zugeben, dass ich da im Moment nicht weiter komme.
Liebe Grüsse

Schirrmi hat gesagt…

Schön dass Du wieder mal den Finger in die Wunde drückst. Es ist tatsächlich erstaunlich dass sich weder Berufsgruppen, Stände noch Bildung unterscheiden wenn es auf die "Hatz" geht.

Es ist traurig zu sehen dass der Mensch nicht lernfähig ist und insbesondere unterschreibe ich was epikur hier dazu kommentierte. Auch wenn der Kommentar meiner Meinung nach zu hoffnungsvoll endet.

Charlie hat gesagt…

@ Troptard: Das ist nett gemeint, aber ich halte mich da doch lieber zurück. Wenn ich tatsächlich schriebe, was ich von kapitalismusverseuchten Menschen des 21. Jahrhunderts halte, könnte ich - selbst an "guten" Tagen - nur noch Zyankalikapseln verteilen. Und das will ich nicht.

Mir reicht die Hoffnung, wie sie beispielsweise in dem kleinen Liedchen der französischen Band Blue Rose aufkeimt, das ich vor kurzem hier mal verlinkt habe:

Imagine what the world could be
Close together, whenever


Anders gesagt: Diese irrwitzige Hoffnung muss reichen.

Liebe Grüße!

Troptard hat gesagt…

@Charlie,

diese Hoffnung keimt nur noch in den zwischenmenschlichen Beziehungen auf. Ich hoffe, dass Du meinen Satz richtig verstehst.

Liebe Grüsse

Charlie hat gesagt…

@ Troptard: Ich glaube (hoffe) Dich sehr gut zu verstehen.

Liebe Grüße!